Benno Gammerl – Queer: Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Benno Gammerl - Queer: Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

In ‚anders fühlen‘ hat Benno Gammerl die Emotionsgeschichte homosexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland erzählt. Sein nun zweites Sachbuch ‚Queer‘, erschienen im Mai 2023 im Carl Hanser Verlag, beleuchtet die deutsche Geschichte queerer Menschen vom Kaiserreich bis heute.

Auf rund 230 Seiten deckt das Buch unterschiedliche Phasen der vergangenen 150 Jahre ab: das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die Nachkriegsjahre in Ost und West, die Emanzipationsbewegung der 70er Jahre, die Zeit der AIDS Epidemie in den 80ern, und den Kampf um Diversifizierung und Gleichberechtigung seit den 90er Jahren. ‚Queer‘ ist nicht darauf aus, eine vollständige Geschichte queerer Menschen in Deutschland zu erzählen, sondern bietet vielmehr eine Einführung, eine Einführung, die dazu einlädt, nach der Lektüre selbstständig queere Geschichte und ihre Akteur*innen zu erforschen.

Queer‘ ist sprachlich sehr zugänglich geschrieben, zeichnet deswegen aber ein nicht weniger komplexes Bild queerer Geschichte. Diese Geschichte verweigert sich dem gängigen Narrativ vom „Durchschreiten eines tiefen Tals [] so als ob man nach ungefähr hundert Jahren endlich wieder dieselben Höhen vielfältiger Buntheit erklimmen würde, die in den 1920er-Jahren bereits schon einmal erreicht waren.“ Gammerl spricht von einer konstanten „Gleichzeitigkeit von Normalisierung, Stigmatisierung und Emanzipation“, das trifft sowohl auf die vermeintlich Goldenen Zwanziger der Weimarer Republik zu als auch auf die Jahre der AIDS Epidemie.

Auch deswegen ist Gammerls Geschichtsschreibung eine queere: anstelle einer einheitlich voranschreitenden Vorstellung von Zeit zu folgen, verknüpft der Text die Gegenwart mit verschiedenen Momenten der queeren Vergangenheit immer wieder neu. Diese schablonenhafte Herangehensweise ermöglicht nicht nur, die Komplexität der queeren Geschichtsschreibung herauszuarbeiten, sie hat auch ein didaktisches Ziel. Denn viele der aktuellen Kämpfe rund um LGBTQ+ Rechte wurden bereits von queeren Aktivist*innen in ähnlicher Form in der Vergangenheit ausgefochten. Die Argumente rechter und konservativer Gruppen sind nicht neu, sie kommen höchstens in einem neuen Gewand daher. Die Arbeit der eigenen queer elders zu kennen, bedeutet von ihnen zu lernen und mit den entsprechenden Werkzeugen ausgerüstet zu sein.

Benno Gammerls ‚Queer‘ ist darüber hinaus auch der Versuch eine flüchtige bzw. ephemere Geschichte greifbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit ihr musste oft im privaten Geschehen, galt sie doch an Universitäten, in Archiven und ähnlichen Institutionen als unwissenschaftlich. Das was über sie geschrieben werden konnte, ist oft (aber nicht nur) in Nischenverlagen erschienen, konnte also kein breiteres Publikum erreichen. Dabei – und auch das macht Benno Gammerl deutlich – ist die deutsche Geschichte ohne die queere Geschichte (wie auch der anderer Gruppen, „deren Erfahrungen und Erinnerungen bisher allzu oft als irrelevant erachtet wurden für historische Gesamtdarstellungen“) nicht vollständig. Dass eine erste Einführung in die deutsche queere Geschichte erst 2023 erscheinen konnte, mag auch deswegen denkbar spät anmuten – und doch könnte ‚Queer: Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute‘ weder aktueller noch wichtiger sein.

In einer Zeit, in der die Straftaten gegen LGBTQ+ Menschen rapide zunehmen und eine rechte Rhetorik den Diskurs rund um die Rechte queerer Menschen – wie beispielsweise die zahllosen Legislativen gegen trans Menschen in den USA – zu beherrschen droht, liefert Benno Gammerls Buch nüchtern und sachlich (deswegen aber nicht weniger empathisch) auf Fakten basierende Argumente, die aufklären und eine oft belächelte Kraft der Literatur entfalten: jungen Menschen das notwendige Wissen an die Hand geben, um auch in Zukunft weiterhin Widerstand zu leisten.

Benno Gammerl stellt die queeren Protagonist*innen der Vergangenheit weder als reine Opfer der Gesellschaft dar, noch heroisiert er sie als „Avantgarde, die aus dem Leiden einer versunkenen Vergangenheit emporführt zu einer vermeintlich nunmehr glücklichen Gegenwart“. Stattdessen stellt er sie in all ihrer Komplexität dar, sprich als Menschen. Und von möglichst vielen Menschen sollte dieses Buch gelesen werden.

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