Marina Zwetajewa – Mein weiblicher Bruder: Brief an die Amazone

Marina Zwetajewa - Mein weiblicher Bruder: Brief an die Amazone

Direkt zu Beginn die Drohung: „Ich füge Ihnen eine Wunde zu, mitten ins Herz, mitten ins Herz Ihres Anliegens, Ihres Glaubens, Ihres Körpers, Ihres Herzens.“ Marina Zwetajewa gilt als eine der größten Dichterinnen Russlands, man darf ihre Worte ernst nehmen. Mein weiblicher Bruder: Brief an die Amazone (aus dem Französischen von Ralph Dutli) ist ein kurzer Text von etwas mehr als 50 Seiten, dafür aber voller Widerhaken.

Marina Zwetajewa schreibt in lyrischer Sprache über die Tragik und die Unmöglichkeit der lesbischen Liebe. Doch nicht die Gesellschaft und ihre widrigen Umstände lassen Sappho verzweifeln, auch nicht die Versuchung des Mannes stehen ihr im Wege. Es ist das Kind: „Denn das Kind ist eine angeborene Habe, es ist in uns vor der Liebe, vor dem Geliebten.“ Wer das Kind nicht gibt, nimmt es. Die lesbische Liebe scheint somit eine Insel ohne Ausweg zu sein, eine Straße ins Nichts. Sie ist Außer-Natur. Man mag Anstoß an der Annahme nehmen, dass die lesbische Liebe von Anfang an zur Tragik verurteilt wird, dass Zwetajewa die Frau auf die Rolle der Mutter, auf ein biologisches Schicksal reduziert. Wie so oft hilft jedoch eine differenzierte Lektüre.

All diese Zuschreibungen erscheinen weitaus weniger extrem, wenn man bedenkt, dass der Briefroman zwar zuerst 1975 veröffentlicht, aber bereits 1934 geschrieben wurde. Darüber hinaus liefert der Text ausreichend Hinweise für eine weitaus komplexere Interpretation, denn Zwetajewa rühmt die Liebe zwischen Frauen als vollkommene Ganzheit. Die Liebe zu den Männern ist nicht natürlicher oder besser. Es kann sie geben, oft ist sie aber viel mehr eine Frage der Gewöhnung infolge des gemeinsamen Kindes.

Nicht von ‚lesbjanka‘ ist im Text die Rede, einem Wort, welches das Russische seit dem späten 19. Jahrhundert kennt. Zwetajewa bedient sich den im Russischen typischen Bildern der Amazone und des weiblichen Bruders, Begrifflichkeiten, welche die Grenzen der Geschlechterkonvention explizit überschreiten. Vieles deutet darauf hin (und so viel Küchentischpsychologie muss erlaubt sein), dass Zwetajewa nicht über die Tragik der lesbischen Liebe geschrieben hat, sondern viel mehr über ihre eigene innere Zerrissenheit der lesbischen Liebe gegenüber.

Historisch lassen sich zwei Adressatinnen des Briefes ausmachen. Zum einem Sophia Parnok, eine ehemalige Geliebte Zwetajewas, deren gescheiterte Beziehung Zwetajewa in mehreren ihrer Texte verarbeitet hat. Zum anderen Natalie Clifford Barney, eine amerikanische Autorin und Begründerin eines Literarischen Salons in Paris, wo Zwetajewa sie auf einer Lesung kennenlernte. Mein weiblicher Bruder ist aber auch als Reaktion auf Barneys Pensées d’une Amazone von 1920 zu verstehen. In ihrem Brief spricht Zwetajewa jedoch nur eine Frau an, die im Laufe des Textes einen Universalcharakter gewinnt. Sie, die Angesprochene, ist die Ältere und die Verlassene. Ihr Schicksal ist es, kommen zu sehen und zwar das Ende. Sie ist aber auch diejenige, die sich gegen die angeborene Habe entscheidet.

Vielleicht beuge ich mich mit meiner Interpretation zu weit aus dem Fenster, doch es scheint mir, dass Mein weiblicher Bruder auch eine Geschichte über die Unvereinbarkeit alternativer Lebensentwürfe ist. Und das ist – wenn man das Buch denn so lesen will – ein universeller Konflikt, der wie auch der Titel die Geschlechtergrenzen sprengt.

Marina Zwetajewa wurde am 08.10.1892 in Moskau geboren. Viele ihrer Werke kreisen um das Thema der lesbischen Liebe, dieser Aspekt wurde in der Rezeption aber lange Zeit nur zu gern ignoriert. Infolge der Oktoberrevolution lebte Zwetajewa zwischen 1925 und 1939 im Pariser Exil. Da ihr Ehemann zuerst in der antikommunistischen Weißen Armee gedient und später als Spitzel für den NKWD gearbeitet hatte, lebte sie zunehmend isoliert von den restlichen Exilanten. 1939 kehrte Zwetajewa in die Sowjetunion zurück, wo ihr Mann hingerichtet und ihre Tochter in ein Arbeitslager verschleppt wurde. 1941 wurde sie gemeinsam mit ihren Sohn nach Jelabuga evakuiert. Im Angesicht der einrückenden deutschen Truppen und des Hungertodes erhängte sich Marina Zwetajewa am 31.08.1941.

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