Stephan Lohse – Das Summen unter der Haut

Stephan Lohse - Das Summen unter der Haut

In den achtundfünfzig Stunden, in denen wir keinen Unterricht hatten, habe ich an nichts anderes denken können als an Axel Peschke. Ich habe in den Buchrücken meiner Eltern, in der Suppe zu Mittag, im Obst zum Nachtisch, in meinen Wasserfarben, meinen Hemden und Hosen, sogar in meinen Schulsachen, in unserem Garten, in den Gärten am Hang, im Mercedes auf der Einfahrt von Sierkes und dem verbeulten Ro 8o auf der Straße, selbst im Himmel, als am Abend ein Gewitter aufzog und die Wolken sich wie Schwefel färbten, die Farbe seiner Haare erkannt.

Hamburg, 1977: Julle ist 14 Jahre alt, sein Leben besteht aus Schule, Ausflügen ins Schwimmbad, Reibereien mit und zwischen seinen Eltern, Besuchen bei Frau Walter, Supertramp auf Schallplatte hören – und Alex Peschke. Wegen dem neuen Mitschüler wird Julles rechte Seite zu einer Antenne, seine Gedanken zu einem Summen unter der Haut, wegen Alex öffnet sich seine Welt: gemeinsam hören sie Queen, füttern Alex‘ Kaninchen Babette, besuchen das Grab von Alex‘ Mutter und erkunden das Geheimnis einer abgebrannten Hütte.

Das Summen unter der Haut‘ von Stephan Lohse erzählt von der ersten Liebe und dem einen Sommer an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Es ist eine Zeit der Neugierde, des Entdeckens und der Fantasie, eine Zeit, in der es noch peinlich ist, wenn beim Tanzen plötzlich das eigene Ding in der Hose hart wird. Die Entdeckung der abgebrannten Hütte und einer Handvoll Röntgenaufnahmen sind Artefakte, eine Wahrheit, deren Kern mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen ist. Und erzählt die Geschichte ein einer ersten Liebe und dem Geheimnis einer abgebrannten Hütte, einer eigentlich banalen Angelegenheit, auch von etwas anderem, von einer Zeit in unserem Leben, in der Dinge größer als sie selbst sind.

Dass der Roman 1977 spielt, mag verschiedene Gründe haben. Es gibt keine Handys, kein Social Media, in der Gegenwart hätte die Geschichte von ‚Das Summen unter der Haut‘ so nicht funktionieren können. Dann wäre da noch die Tatsache, dass nur wenige Jahre später die AIDS Epidemie einsetzen wird, hier also ein letzter Sommer der vermeintlichen Unschuld geschildert wird, einer Unbeschwertheit, bevor es zum Umbruch kommt und die Welt mit all ihren Problemen, Sorgen und Herausforderungen einbricht – all das, wovor einen Eltern nicht mehr schützen können. Vielleicht hat Stephan Lohse den Roman ja auch in den 70ern angesiedelt, weil er im Roman eigene Erfahrungen verarbeitet. Vielleicht trifft alles oder auch nichts davon zu. Immerhin hat Stephan Lohse im Podcast ‚Dichtung & Wahrheit‘ selbst gesagt, dass es für ihn beim Schreiben keinen Unterschied macht, ob er erfindet oder sich erinnert und seine Texte in der Regel eine Mischung aus beidem sind.

Das Summen unter der Haut‘ ist nur auf den ersten Blick eine klassische Geschichte, enthält sie doch tatsächlich doch Elemente, die sie zu etwas Besonderem auf dem deutschsprachigen Buchmarkt machen. Das Thema Homosexualität wird mit einer gewissen Leichtigkeit und Unbeschwertheit verhandelt, die für queere bzw. schwule Geschichten jener Zeit ungewöhnlich sind, portraitieren sie die erste Liebe doch in der Regel als von Zweifeln und Selbsthass geprägt, als etwas, was aufgrund der gesellschaftlichen Repressalien von Anfang zum Scheitern verurteilt ist.

Stephan Lohse macht es anders. Die Liebe von Julle zu Alex hat etwas ungewohnt Selbstverständliches – was nicht heißen soll, dass Stephan Lohse den Ängsten und Sorgen seiner Figuren keinen Raum gibt, dass auch sie sich nicht vor dem Bekanntwerden ihrer Gefühle fürchten. Erzählt der Roman doch genauso zärtlich von der Grausamkeit uns selbst gegenüber, nur um unserer Umwelt zuvorzukommen. Doch all das nimmt nie Überhand, die Geschichte bewahrt sich stets ihre Leichtigkeit. ‚Das Summen unter der Haut‘ portraitiert die erste Liebe als das, was sie gemeinhin sein soll: unschuldig, aufregend und vielleicht auch ein wenig peinlich. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit erweitert Stephan Lohse auch das queere Figurenkabinett rund um Julle – weil er eben nicht allein ist auf dieser Welt. Und auch gerade deswegen thematisiert der Text ganz selbstverständlich und mit der gleichen Leichtigkeit und Zärtlichkeit Themen wie Tod und Klassenunterschiede.

Natürlich kann man argumentieren, dass es bereits Texte gibt, die Queerness und die erste Liebe ähnlich selbstverständlich darstellen – doch handelt es sich dabei in der Regel um Texte, die aus dem Englischen übersetzt wurden. Und natürlich kann man auch argumentieren, dass der Roman, wie es auch der Klappentext beschreibt, eine Vergangenheit darstellt, die so vielleicht nie war, aber hätte sein sollen. Aber vielleicht war es ja auch so, vielleicht auch nur ein einziges Mal?

Ob queer oder nicht, wir erzählen Geschichten für neue Generationen immer wieder neu. Stephan Lohse erzählt diese Geschichte mit einem unglaublichen Feingefühl, eine Geschichte, welche die vielfältigen Möglichkeiten der Literatur birgt: Spiegel vorzuhalten, Fluchten zu ermöglichen, Welten zu öffnen.

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