Kim Hye-jin – Die Tochter

Kim Hye-jin - Die Tochter

Mutter und Tochter sitzen im Restaurant, vor ihnen türmen sich die Udon-Nudeln und das Schweigen der vergangenen Jahre. Sie sind zwei vollkommen unterschiedliche Frauen. Die eine ist wie aus der Zeit gefallen, sie wertschätzt Anstand, Würde, Sauberkeit und Ordnungsliebe. Die andere trägt ihre prekäre Lage zur Schau, ihre Nachlässigkeit und das mangelnde Feingefühl. Doch die eine ist noch immer die Mutter, die einzige Person, welche die Tochter um Hilfe bitten kann. Sie sind eine Familie. Also zieht die erwachsene Tochter bei der Mutter ein. Und mit ihr die Partnerin.

In Kim Hye-jins Roman Die Tochter (aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee) ist der Mutter-Tochter-Konflikt zentral, doch die Autorin nutzt ihn, um sich an verschiedenen Themen abzuarbeiten: Alter, was es bedeutet eine Frau in einer konservativen und patriarchalen Gesellschaft zu sein, Kapitalismus und auch Queerness.

Die namenlose Protagonistin von Die Tochter nennt lediglich ein Haus ihr Eigentum, „seiner Besitzerin ganz ähnlich, vornübergebeugt, mit abgenutzten Gelenken und mürben Knochen.“ Das Haus, das Einzige, was sie kontrollieren kann, hat sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hat sie das kapitalistische Spiel des Lebens bereits hinter sich gelassen, sie wurde längst abgehängt. Sie arbeitet als Pflegerin in einem Altenheim. Hier kümmert sie sich um Tsen, eine demente kinderlose Frau, die nie geheiratet und ihr Leben in den Dienst der Gesellschaft gestellt hat. Ohne Familie hat sie niemanden, der sich um sie kümmert oder sie besucht.

Das Pflegeheim gleicht einer Hölle. Die Patient*innen wurden von ihren Familien vergessen, sie liegen, auch weil die finanziellen Mittel fehlen, in ihrem eigenen Dreck bis sie irgendwann sterben und ihr Platz von einer neuen Person eingenommen wird. Der Erzählerin fällt es immer schwerer, diese Missstände hinzunehmen, auch weil das Schicksal von Tsen einem Blick in die Zukunft gleicht.

Ihre Tochter führt eine in ihren Augen bedeutungslose Existenz. Trotz Studium hat sie wie so viele andere junge Menschen in Korea keine Festanstellung. Sie ist nicht kreditwürdig, hat aber auch keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung. Ohne einen Ehemann, ohne Kinder, die sie im Alter versorgen werden, hat sie keine ökonomische Sicherheit. In der Gesellschaft wie der ihren gibt es keinen Platz für einen queeren Lebensentwurf.

Kim Hye-jin - Die Tochter 02

Das Zusammenleben von Mutter und Tochter ist eine Konfrontation des Unausgesprochenen und Verdrängten. Auf engstem Raum beginnt ein Grabenkampf zwischen den beiden Parteien. Wieso riskiert die eigene Tochter alles? Wieso protestiert sie vor der Universität, an der sie arbeitet, für die Wiedereinstellungen von Kolleg*innen, die aufgrund ihrer Homosexualität ihren Job verloren haben? Wieso kann sie nicht akzeptieren, dass die Dinge nun einmal so sind? Wieso kann sie sich nicht von ihrer Freundin trennen und einen Mann heiraten? Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verliert die Mutter in diesem Kampf an Boden. Ihr Blick auf die Welt verschiebt sich: Ist sie ein guter Mensch oder ein Angsthase?

Hye-jin bleibt den Roman über nah an den Gedanken der Mutter, die für ihre Sorgen und Ängste keine Sprache findet, die es nicht gewohnt ist, gegen etwas ansprechen zu müssen. Diese Perspektive hat natürlich etwas Didaktisches. Anstatt Leser*innen mit der Perspektive der Tochter abzuschrecken, bietet die Mutter ein gewisses Identifikationspotenzial – und die Möglichkeit, mit ihr zu wachsen. Didaktik hat in der queeren Literatur allerdings Tradition und wir würden schlecht daran tun, diese Form der Literatur als überholt oder veraltet abzustempeln.

Kim Hye-jin beweist mit Die Tochter, dass auch ein Roman mit einer didaktischen Ausrichtung innovativ sein kann und seine Leser*innen nicht für dumm verkaufen muss: Der Roman – ohne zu viel vorwegzunehmen – verweigert sich einer narrativ eindeutigen Auflösung, die zwar befriedigend, aber nicht realistisch wäre. Die Tochter ist ein leises und langsames Buch, ein Plädoyer für den Dialog und den Austausch.

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