Khaled Alesmael sitzt, bis auf ein Paar Socken nackt, auf dem Boden seiner Wohnung in Göteborg und wartet auf einen Brief. Er wartet auf das offizielle Schreiben der Einwanderungsbehörde, die nach vier Monaten noch immer nicht über seinen Einbürgerungsantrag entschieden hat. Doch der Brief, der durch den Briefschlitz in seiner Wohnungstür fällt und wie eine Jasminblüte auf dem Gehsteig liegen bleibt, ist nicht die erhoffte Botschaft. Es ist der Brief eines fremden Mannes aus Deutschland, der ein Projekt – der Vergangenheit und der Zukunft – in Gang setzt.
Der zweite Roman von Khaled Alesmael Ein Tor zum Meer: Briefe homosexueller Männer (aus dem Arabischen von Christine Battermann) muss in einem Atemzug mit seinem Debüt Selamlik (aus dem Arabischen von Christine Battermann und dem Englischen von Joachim Bartholomae) genannt werden. Hat, wie der Inhalt des Jasminbriefs beweist, die Rezeption des ersten den zweiten doch erst möglich gemacht: „Danke, dass du, ohne mich zu kennen, einen Teil meiner Lebensgeschichte aufgeschrieben hast! Danke, dass du die Worte aufs Papier gebracht hast, die in meinem tiefsten Innern verschlossen liegen! Danke dafür, dass du Selamlik verfasst hast, das erste Buch, das ich nach meinem Studienabschluss gelesen habe!“
Nachdem Alesmael in Selamlik also seine eigene Geschichte als schwuler Mann und als Geflüchteter erzählt hat, lässt er in Ein Tor zum Meer 10 schwule Männer ihre Geschichte erzählen. Es sind die Geschichten von Männern, denen Alesmael teilweise auf seiner Flucht persönlich begegnet ist, teilweise sind es Geschichten, die ihm nach der Veröffentlichung seines Romans zugespielt wurden. Bereits während seiner Flucht, plante Alesmael die Anonymität schwuler Dating-Portale zu nutzen, um arabische Männer zu finden, mit ihnen über ihre Sexualität zu sprechen und ihrer Lebensrealität eine Plattform zu geben. All diese Männer eint der Wunsch, dass ihre Geschichten erzählt werden, dass sie auch andere Männer in ähnlichen Situationen erreichen.
Alesmael beschreibt Ein Tor zum Meer selbst als ein „fiktives Sachbuch“, als eine Mischung aus Fakt und Fiktion, weil „unser Gedächtnis Geschichten erfindet, die uns ein vollständigeres Bild unser selbst präsentieren sollen“ und um die Empathie der Lesenden herauszufordern: „Was wäre, wenn Sie einer dieser Männer wären?“
Dieses Vorhaben geht auch auf, weil sich Alesmael eines geschickten Kunstgriffes bedient: Zu Beginn dieses fiktiven Sachbuches werden die einzelnen Briefe von Szenen zusammengehalten, in denen Alesmael als Erzählinstanz in Erscheinung tritt und von seinen Begegnungen mit den jeweiligen Männern berichtet. Später ist er nur noch der Journalist, von dem diese Männer berichten, der nunmehr Teil ihrer Erzählungen ist, bis die Männer ganz für sich selbst sprechen und Alesmael komplett in den Hintergrund rückt.
Auch deswegen wird deutlich, dass es zwischen der Geschichte von Alesmael und den Geschichten der Männer sowohl Parallelen als auch Unterschiede gibt, dass diese Unterscheidung aber letzten Endes egal ist, weil die Männer keine Archetypen oder Stellvertreter sind, sondern Individuen: „Jeder von ihnen trägt eine Landschaft in sich, eine weitläufige Landschaft, von der wir den Ausgangspunkt kennen, die Ausdehnung und das Ende jedoch nicht.“
Diese zehn Individuen erzählen die unterschiedlichsten Geschichten: Sie erzählen Liebesgeschichten, glückliche wie tragische, von arrangierten Ehen, von sexuellem Missbrauch und Gewalterfahrungen, von Krieg, von dem Wunsch wahrhaftig sprechen zu können und dem Sehnen nach Freiheit. Oft spricht aus diesen Männern eine Wehmut, ein Sehnen nach einem Zuhause, zu dem sie nicht mehr zurückkehren können, auch weil es die Heimat ihrer Erzählungen oft nicht mehr gibt, sie nur noch in ihren Erinnerungen existiert.
Ein Tor zum Meer, der Titel des Romans, hat verschiedene Bedeutungen, die aber alle auf das Gleiche hinauslaufen: Bab al-Bahr, was gleichbedeutend mit dem deutschen Titel ist, ist der Name eines Hammams in Kairo, in dem homosexuelle Männer im Verborgenen und im Schmutz ihr Begehren für ein paar Stunden ausleben können. Der Titel steht aber ebenso für die Fluchtroute in Richtung Europa. Beides bedeutet Freiheit, beides bedeutet Gefahr. Die Gefahr der Fluchtroute, wie wir sie aus der sicheren Entfernung unserer Wohnzimmer in der medialen Berichterstattung sehen können, und die Gefahr, ausgehend von einer Journalistin, die gemeinsam mit der Polizei das Hammam gestürmt und gefilmt hat, wie die halbnackten Männer gefesselt und ins Freie getrieben wurden – wie es tatsächlich 2014 in Kairo geschehen ist.
Ein Tor zum Meer von Khaled Alesmael ist eines dieser Bücher, das man mit dem Prädikat ‚wichtig‘ beschreiben möchte. Die Dringlichkeit dieses Romans ist aber nicht nur seiner Menschlichkeit geschuldet, auch formal, stilistisch und sprachlich überzeugt es. Und tatsächlich gleicht es einem Tor: in verschiedene Wahrheiten und auf ein Panorama, das beweist, dass die Welt vor unseren Fenstern nicht die einzige ist.
P.S.: Auf den Bildern sind Foto des Künstlers Laurnce Rasti aus der Reihe There Are No Homosexuals in Iran zu sehen, ein Zitat des damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschād von 2007. Ein Teil der Fotoserie ist in dem Bildband New Queer Photography: Focus in the Margins enthalten.