Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Anleitung ein anderer zu werden (aus dem Französischen von Sonja Finck) ist das nunmehr fünfte Buch von Édouard Louis – und quasi die Fortsetzung seines Debütromans Das Ende von Eddy. Hier beschreibt er den radikalen Wandel, den er unternommen hat, um das Elend des Dorfes hinter sich zu lassen: „Damals wusste ich noch nicht, dass die Beleidigungen und die Angst meine Rettung sein würden, vor dir, vor dem Dorf, vor der exakten Wiederholung deines Lebens. Ich wusste noch nicht, dass die Erniedrigung mich dazu zwingen würde, mich von all dem zu befreien.“

Leider kann und möchte ich mich den Lobeshymnen des Feuilletons und der Buchblogger*innen nicht anschließen. Anleitung ein anderer zu werden hat mich sowohl sprachlich als auch inhaltlich eher enttäuscht. Wieso, das möchte ich hier möglichst sachlich – und vielleicht auch ein wenig polemisch – erklären.

Louis rekurriert im Laufe des Textes immer wieder auf eine Sprachlosigkeit gegenüber dem Erlebten und dem Empfundenen oder zitiert Schriftsteller*innen, um doch Worte für das zu finden, was er sagen möchte. Man fühlt sich unweigerlich daran erinnert, was er über seine anfänglichen Schreibversuche geschrieben hat, mehr ein Mittel zum Zweck, dass er nur eine Rolle gespielt habe, als tatsächlich schreiben zu wollen. Natürlich ist das ein etwas unfairer Seitenhieb, aber man kommt nicht umhin zu bemerken, dass die Schriftsteller*innen, die er zu seinen Vorbildern zählt, einen theoretischen Unterbau in ihren Werken vorweisen können, der hier mehr oder weniger fehlt.

Beim Lesen von Anleitung ein anderer zu werden hatte ich stets das Gefühl, dass die Reflexionen über Klasse und Herkunft und die damit einhergehende Scham größtenteils an der Oberfläche blieben: die Scham wird benannt, aber wo wird sie in irgendeiner Form greifbar? Es ist eine etwas ausgelutschte Lektoratsanmerkung, sie scheint hier aber passend: Show, don’t tell!

Nun können sich viele Leser*innen mit dem Buch und dem Werk Édouard Louis identifizieren, aber ich würde behaupten, dass das im Falle von Anleitung ein anderer zu werden vor allem damit zu tun hat, worüber hier geschrieben wird – nicht wie darüber geschrieben wird. Auch ich habe mich in den Nächten nach der Lektüre plötzlich mit Alpträumen über meine eigene Herkunft geplagt, das Buch hat auch in mir gerührt, das möchte ich nicht bestreiten. Doch genau hier liegt die Krux an der Sache: Ich war ‚betroffen‘, weil mir viele der Szenen (wenn auch nicht unbedingt so extrem) aus der eigenen Biografie bekannt vorkamen, nicht weil das Buch durch seine Reflexionen mir Einsicht in einen mir unbekannten Teil der Welt oder auch meiner selbst ermöglicht hat. Und ich vermute, dass es vielen Leser*innen ähnlich ging: Das Buch spricht zu ihnen, weil sie die Worte bereits kennen.

Nun kann und darf man natürlich argumentieren, dass es Literatur geben muss, in der sich ihre Leser*innen wiederfinden. Dem möchte ich auch nicht widersprechen. Ich glaube aber, dass das Buch mehr sein möchte und auch dass darüber gesprochen wird, als wäre es mehr.

Gerade weil Louis reflektiv und nicht aus dem Moment heraus über das Erlebte schreibt, wirken einige der Aussagen im Text naiv bis ärgerlich. Und auch weil er sich als Verteidiger des Proletariats stilisiert, fragt man sich, warum er hier vor allem eins tut: nach unten treten. Das soll nicht heißen, dass er das Bürgertum nicht kritisiert. Oft wirkt diese Kritik aber derart zaghaft, als wollte er potenzielle Leser*innen aus bestimmten Schichten dann doch nicht vom Kauf des Buches abschrecken. Denn dass niemand aus seinem kleinen Dorf liest, ist eh klar (Vorsicht: Ironie).

Vor allem die Gewalt der Menschen, die Édouard Louis bei seinem Wandel behilflich sind, wird kaum thematisiert. Nicht wenn ihm ein anderer Name aufgezwungen wird, der – so das Empfinden der Namensgebenden – einer Person seines neuen Standes besser steht, und auch nicht wenn seine Zahnhygiene und seine Art mit Messer und Gabel zu essen kritisiert werden. Natürlich, es handelt sich hier um eine andere Form von Gewalt, dass Édouard Louis über diese Szenen aber weiterhin in einem unterwürfig dankbaren Ton schreibt, ist vielleicht auch Beweis dafür, dass zwischen dem Erlebten und dem Schreiben nicht genug Zeit vergangen ist, dass Louis, wie er selbst schreibt, in der Falle sitzt:

„Ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb so ein großes Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien; vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.“

Wirklich ärgerlich sind dann aber vor allem Édouard Louis Äußerungen bezüglich Homosexualität und Herkunft: „Dadurch, dass ich Sex mit einem Mann hatte, erteilte ich den Wertvorstellungen meiner Klasse eine Absage, wurde ich zu einem Teil des Bürgertums.“ Dass Louis so mit 16 empfunden hat, ist verständlich. Dass er noch als 30jähriger Mann scheinbar so empfindet, ist peinlich, weil es impliziert, dass die Wertvorstellungen, von denen er hier schreibt, etwas sind, was das gesamte Bürgertum durchweg eint. Oder als würde man Rassismus und Homophobie nicht in allen Klassen der Gesellschaft vorfinden.

Wenn Louis in Klammern extra einfügt, dass auch über Sex gesprochen werden muss, ohne dass es großartig thematisiert wird, außer dass Louis bei seiner Ankunft in Paris mit vielen Männern schläft (auch für Geld) und er beschreibt, wie ein Mann seinen Schwanz gegen ihn presst, muss man sich fragen: Welche spießbürgerlichen Attitüden sollen hier bitteschön beruhigt werden? Vielleicht würde ich mich weniger ärgern, wenn in diesem Text nicht so oft das Wort „radikal“ fallen würde, wo doch andere viel radikaler darüber geschrieben haben, ihre Vergangenheit auch durch eine radikale Sexualität hinter sich gelassen zu haben.

Ich kann und möchte gar nicht abstreiten, dass dieses Buch vielen Leuten etwas bedeutet – auch weil sie sich und ihre Biografie in diesem Text wiederfinden. Dieses Erkennen der eigenen Realität in der Literatur ist wichtig und, ja, auch selbstermächtigend. Doch dieses Gefühl sollte nicht davon anhalten, Kritik zu üben – vor allem an einen Autor, der jeglicher Kritik erhaben zu sein scheint. Denn Anleitung ein anderer zu werden beschreibt durchaus einen radikalen Lebenswandel. Es könnte aber ein umso besseres Buch sein, wenn es diese Radikalität auch bezüglich der eigenen Reflektionen umsetzen würde.

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