Giulia Baldelli – Das Schweigen meiner Freundin

Giulia Baldelli - Das Schweigen meiner Freundin 01

Dann habe ich mich in den Wald geschlagen. Zwischen den Büschen hindurch, und als ich die Lichtung und den Tümpel erreichte, in den du als Kind den Kopf tauchtest, ohne mich, habe ich laut deinen Namen ausgesprochen. Schon seit Jahren habe ich das nicht mehr getan, und meine Stimme versagte dabei. Noch einmal, lauter: Cristi. Das Schilfgeflüster hat mir geantwortet, die knirschende Erde, vielleicht auch ein Nachtvogel. Du nicht. Also habe ich mich gesetzt und begriffen, dass das Warten noch nicht vorüber ist.

Das Schweigen meiner Freundin‘ von Giulia Baldelli (aus dem Italienischen von Elisa Harnischmacher) erzählt von der Freundschaft zwischen zwischen Giulia, Cristi und Mattia, der Frage, was es bedeutet, wenn die Person, die man liebt, für einen anderen bestimmt ist, vor allem aber von dem Verlangen nach einer unbändigen Freiheit, die widerspenstig und nie ganz zu greifen ist.

Es ist der Sommer 1991, als Lilli, von der im Dorf alle wissen, was für eine sie ist, ihre Tochter Cristi bei ihrer Großmutter Ida abliefert – Ida, die weder lesen noch schreiben kann und der Cristis schlechte Zeugnisse egal sind. Die gerade einmal 10 Jahre alte Giulia bekommt von ihrer Mutter den Auftrag, die Vormittage mit dem etwas jüngeren und seltsamen Mädchen zu verbringen, das schweigt und immer tut, was man ihr sagt. Doch schon bald wird aus dieser Pflicht etwas anderes und auch wenn Giulia noch keine Sprache oder Definition für das hat, was mit ihr passiert, beginnt hier eine Liebesgeschichte, die das Leben mehrerer Menschen nachhaltig prägen wird.

Denn als Mattia eines Tages im Dorf auftaucht, wird schnell klar, dass Cristi und Mattia zusammengehören. Schon als junges Mädchen muss Giulia lernen, dass so sehr sie Cristi auch liebt, diese zu wem anders gehört. Er ist es, der sie zum Sprechen bewegt, der ihr das Schreiben beibringt: „Und ohne dass ich es will, keimt in mir die Antwort auf die Frage auf, die mich quält, seitdem ich Mattia kennengelernt habe: Was ist so Besonderes an ihm? Vielleicht fühlt sich Cristi mit ihm frei.

Der Roman verfolgt die Freundschaft der beiden Frauen zwischen 1991 bis 2014 aus einer nicht näher beschriebenen Zukunft 50 Jahre nach ihrem ersten Treffen. Giulia ist eine alte Frau, die dem Tod ins Auge blickt und dem Schweigen ihrer Freundin begegnet, indem sie sich eines nachts an einen Tümpel setzt und der Natur ihre Geschichte erzählt. Es ist auch die Geschichte einer Wirtschaftskrise, eines Umbruchs, der Giulias Vater seinen Job und das Haus der Familie kostet und ihn in eine lebenslange Depression stürzt. Bereits mit 14 Jahren beschließt sie Jura zu studieren. Das Ziel: irgendwann genug zu verdienen, um das Haus ihrer Eltern zurückzukaufen und ihren Vater aus den Klauen seiner Depression zu befreien. Das Studium ist auch die Zeit, in der sich Giulia und Cristi am nächsten sind. Während Mattia ins ferne Deutschland verschwunden ist, zieht das Mädchen, das einst nicht schreiben konnte, für das Studium nach Bologna in Giulias Wohnung – und in ihr Bett.

Beide leben sie in der kleinen Wohnung auf engsten Raum beieinander und doch erlauben sie sich gewisse Freiheiten, wie das ein oder andere Abenteuer mit einem Mann, das nichts bedeutet. Doch Cristis Freiheitsdrang ist groß, vielleicht zu groß, beginnt sie sich doch in der anarchistischen Szene zu engagieren. Und dann tritt Mattia nach Jahren der Abwesenheit wieder in ihr Leben.

Man tut Giulia Baldellis Roman vermutlich keinen Gefallen, wenn mensch ihn mit einer queeren Brille zu lesen versucht, landet man dabei doch u.a. schnell bei überholten Klischees über bisexuelle Menschen. Diese Absicht verfolgt Baldelli m.E. aber nicht, dafür geht sie zu empathisch mit allen ihren Figuren um. Vielmehr, so glaube ich, muss die Queerness der Figuren – wie auch die anderen Themen des Romans – als Ausdruck von etwas Universellem verstanden werden (und das kann man natürlich gut oder schlecht finden). Denn auch wenn der Roman sowohl zeitlich als auch geographisch fest verankert ist, wirtschaftliche Umbrüche, Queerness und auch die anarchistische Szene thematisiert, könnte das Buch genauso gut in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit spielen. All diese erwähnten Themen sind (eine austauschbare) Hintergrundkulisse für die Beziehung zwischen Giulia, Cristi und Mattia. Sie sind Ausdruck der unbändigen Freiheit, nach der sich die schweigsame Cristi sehnt und die sie zugleich für die restlichen Figuren symbolisiert.

Das macht ‚Das Schweigen meiner Freundin‘ von Giulia Baldelli nicht unbedingt zu einem schlechten Roman, auch wenn er hin und wieder eine Tiefe vortäuscht, die er nie erreicht (und wahrscheinlich auch gar nicht erreichen will). Vielmehr muss er als unterhaltsamer Schmöker verstanden werden, der auf knapp 500 Seiten von den universellen Irrungen und Wirrungen der Liebe und der Freiheit erzählt. Und mit diesen Erwartungen wird man sicherlich gut unterhalten.

Giulia Baldelli - Das Schweigen meiner Freundin 02
Facebook
Twitter
LinkedIn

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert