1928 löst die Veröffentlichung von Radclyffe Halls The Well of Loneliness einen Skandal aus. Die unverschleierte Darstellung weiblicher Homosexualität wird als Angriff gesellschaftlicher Werte verstanden. Das Werk steht wegen Obszönität vor Gericht und wird infolgedessen – daran können auch Protestbriefe von Virginia Woolf und E.M. Forster nichts ändern – in England verboten. Trotzdem: The Well of Loneliness wird zum Klassiker und lange Zeit zu einer Art lesbischer Bibel. Dabei ist der Roman von Anfang an auch bei lesbischen Frauen stark umstritten.
Stephen entspricht nicht den gängigen Vorstellungen ihrer Zeit, wie eine Frau auszusehen und sich zu benehmen hat. Sie trägt Hosen, später Anzug und Krawatte, reitet und fechtet wie ein Mann, interessiert sich für Autos und erhält dank ihres Vaters eine Bildung, die über das hinausgeht, was für eine Frau als notwendig betrachtet wurde. Die Vorstellung einen Mann zu begehren und zu heiraten, widert Stephen an, sie begreift, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt.
Nach dem Tod ihres Vaters wird Stephen von ihrer Mutter verstoßen. Sie beginnt in London zu schreiben, doch etwas hält sie zurück, sie kann als Schriftstellerin ihrer wahren Natur nicht Ausdruck verleihen. Während des Ersten Weltkrieges dient sie an der französischen Front als Teil einer Sanitäterinneneinheit, wo sie Mary Llewellyn kennenlernt und sich in diese verliebt. Nach dem Ende des Krieges geht das Paar nach Paris und wird Teil des lesbischen Kreises rund um Valérie Seymour (welcher dem lesbischen Salon von Natalie Berney nachempfunden ist). Das Happy End ist in greifbarer Nähe, doch dann tritt ein Mann aus Stephens Vergangenheit in das Leben der beiden Frauen, die Beziehung muss zerbrechen.
Radclyffe Hall (1880-1943) teilt viele biographische Details mit ihrer Protagonistin. Sie lebte offen und stolz als lesbische Frau, kleidete sich ihren eigenen Vorstellungen davon entsprechend in Anzug und Krawatte und war Teil der lesbischen Szene in London, Rye und Paris. Den Roman rein biographisch zu lesen, wäre allerdings zu einfach. Radclyffe Hall ist in The Well of Loneliness mit einer didaktischen Mission unterwegs. Stephen ist das Beispiel par excellence einer Invertierten oder auch des sogenannten dritten Geschlechts. Hier geht es um nicht weniger, als den Beweis zu erbringen, dass das dritte Geschlecht Teil von Gottes Plan ist.
Aus heutiger Perspektive sind die die Theorien der Sexualwissenschaftler Richard von Kraft-Ebing und Karl Heinrich Ulrichs natürlich veraltet. Vereinfacht ausgedrückt besagen diese Theorien, dass weibliche Invertierte eine männliche Seele haben, männliche Invertierte eine weibliche Seele – und deswegen das gleiche Geschlecht begehren. Oft fühlen sich Invertierte allerdings zu ‚richtigen‘ Frauen bzw. Männern hingezogen, was eine glückliche Beziehung unmöglich macht (Das ist so auch schon bei Proust zu lesen und da genauso frustrierend). In der Bibliothek ihres Vaters entdeckt Stephen nach seinem Tod die Studien dieser Männer zum dritten Geschlecht und beginnt endlich ihre eigene gottgegebene Natur zu verstehen. Doch der Text bietet auch einen weiteren Erklärungsansatz für Stephens Sexualität.
Beide Eltern sind während der Schwangerschaft davon überzeugt, dass es ein Junge wird, und entscheiden sich für den Namen Stephen. Als das Kind zur Welt kommt, haben sich beide so an die Vorstellung gewöhnt, dass sie den Namen beibehalten. Dementsprechend wird Stephen auch eine Erziehung und Ausbildung zuteil, wie sie ein Junge zu dieser Zeit erhalten hätte. Im Sinne der Psychoanalyse haben sich Stephens Eltern quasi eine Invertierte herbeigedacht und anerzogen. Diese Widersprüche sind es, die The Well of Loneliness – damals wie heute – so spannend wie auch frustrierend machen.
Stephen ist ganz bewusst als eine Art Messias-Figur angelegt. Es ist ihr Schicksal, den Stamm der Invertierten von seinem Los der Verbannung und Ächtung zu befreien, über das Schreiben dem Rest der Menschheit zu zeigen, dass sie und die ihrigen nicht anders sind. Den gängigen Vorstellungen zufolge waren Homosexuelle degeneriert, Verbrecher und Alkoholiker und stammten auch aus solch degenerierten Familien. Stephen allerdings stammt aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie, sie trinkt keinen Alkohol und ist gebildet. Das macht die Grenze, die immer wieder zwischen ihr und den anderen Invertierten gezogen wird, umso auffälliger. Sie sind Alkoholiker und Verbrecher. Es ist die Gesellschaft, die sie dazu getrieben hat, doch bleiben sie trotzdem – auch in den Augen von Stephen – fast immer in irgendeiner Art und Weise verachtenswert.
Der Blick auf die in ihren Augen zu femininen Hände homosexueller Männer und ihrer ausgeprägten Gestik rufen in Stephen stets Ekel hervor. Nur widerwillig ist sie Teil des lesbischen Zirkels rund um Valérie Seymour. Sie bieten ihr Halt und auch ein Stück Normalität und doch stehen sie stets unter Generalverdacht, Stephen in den Abgrund ihrer eigenen Degeneration hinabzureißen. Grund für diese Darstellung ist sicherlich auch ein gewisses Klassendenken. Der Roman ist durchzogen von einer Melancholie zu einem Ort, an dem die Menschen sich ihrem Stand entsprechend verhalten, wo die Regeln der guten Gesellschaft eingehalten werden, die hier einem Naturgesetz gleichen.
All das sagt noch immer nichts über die literarischen Qualitäten von The Well of Loneliness aus. Der Roman ist atmosphärisch dicht erzählt, ist das, was man gemeinhin einen Schmöker nennt. Doch die Szenen, in denen Radclyffe Hall den Fokus auf andere Figuren lenkt, um diese Atmosphäre auszureizen, oder in der Natur verweilt, um Stephens Sexualität als Teil eben jener darzustellen, blähen den Text auf eine unnötige Länge von fast 500 Seiten.
Selbstverständlich wäre es anmaßend, das heutige Verständnis von Queerness an einen Roman von 1928 zu stellen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob jeder queere Klassiker den Wandel der Zeit und den Vorstellungen von Identität und Sexualität gleich gut übersteht, ob abseits von ein paar Expert*innen diese Bücher noch ein breiteres Publikum erreichen können. Und doch, und doch … Abseits all dieser Kritik darf der Einfluss von Büchern wie The Well of Loneliness nicht vergessen werden, die ihren Leser*innen gezeigt haben, dass sie eben nicht allein sind. Annemarie Schwarzenbach hat (vermutlich) Eine Frau zu sehen als Reaktion auf die Lektüre von The Well of Loneliness geschrieben. Was wir an queerer Literatur lesen können und was wir in Zukunft noch lesen werden, wäre ohne diese Bücher und ihre Autor*innen nicht denkbar.
1 Kommentar zu „Radclyffe Hall – The Well of Loneliness“
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