„Mit dem Gesicht nach unten auf dem Hotelbett, der Körper. Eine Hängt seitlich vom Bett, ruht auf dem roséfarbenen Teppichborsten, die Finger sind gespreizt, die Nägel lackiert, die Nagelbetten wund, der Ehering in Weißgold wie ein zwinkernd erstarrtes Auge. Der Rest ist eine leere fleischliche Hülle. Im Laken erstickte Brüste, das Kissen am Kopfteil zerdrückt, die Schultern zur Grimasse verzerrt, die Kniekehlen ein Ringen nach Luft und die Haut bereits matt. Diese Frau ist allein.“
Virtuoso, der zweite Roman der ukrainisch-amerikanisch-französischen Schriftstellerin Yelena Moskovich (aus dem Englischen von Conny Lösch), beginnt mit einer Kamerafahrt, die – wie auch der gesamte Roman – mit immer wieder David Lynchs Filmen verglichen wird. Noch wissen wir nicht, dass die Tote Dominique ist, und dass ihre Frau Aimée, die sie Momente später finden und versuchen wird wiederzubeleben, sich von nun an von einer blauen Wolke verfolgt glaubt. Und das ist wunderbare an diesem herrlich surrealen Roman: An keiner Stelle können sich Leser*innen sicher sein, was als nächstes geschehen wird.
Liebe, Tod, Erotik, Freundinnenschaft, das Leben in der Diaspora und Kapitalismus – das sind die Themen des Romans, zusammengehalten von einer Gruppe von Figuren, deren Verhältnis zueinander zu Beginn des Romans, so wie auch die blaue Wolke, nicht zu greifen ist. Die 18jährige Amerikanerin Amy lernt in einem Chatroom für lesbische Frauen eine tschechische Hausfrau kennen, die irgendwo in der Einöde von ihrem Mann in ihrem Haus festgehalten wird. Jana und Zorka leben als junge Mädchen im gleichen Mehrfamilienhaus im sowjetischen Prag. Erst Jahre später, wenn es das Land, in dem sie aufgewachsen sind, nicht mehr geben wird, treffen sie in Paris erneut aufeinander.
„Sie ging an den Menschen vorbei, wie hinter einer gläsernen Wand, hinter der niemand sie sah oder nur als einen kaum merklichen Defekt in der szenischen Darstellung ihres Lebens wahrnahm, als einen Rechtschreibefehler in ihrer Autobiografie. Umgekehrt waren sie für Jana auch nur eine szenische Darstellung, eine träumerische Masse verschiedener Arten von Dazugehörigkeit, an der sie keinen Anteil hatte.“
Der Roman springt zwischen den Zeiten, Ländern und Figuren hin und her, dieser Wechsel geling Moskovich allerdings mühelos. Als Leser*in fühlt man mit den Figuren, weil die Zusammenhänge nicht immer ganz klar sind, weil die Ereignisse unvorhersehbar sind. Und es sind auch die ungewöhnlichen Sprachbilder, die ein Gefühl der Entfremdung hervorrufen, wie es auch die Frauen in Yelena Moskovichs Roman aufgrund ihrer Migrationserfahrung empfinden.
Das Leben im kommunistischen Prag der 80er, in dem Jana und Zorka ihre Kindheit und Teile ihrer Jugend verbringen, ist von Paranoia geprägt. Aufgrund der ständigen Überwachung ist der Zwang zum Konformismus umso größer und vor allem der weibliche Körper ist gezwungen, sich zu unterwerfen. Der Androhung von sexualisierter Gewalt und der Gewalt selbst begegnen sie mit stoischer Ruhe. Einzig und allein Zorka, die Malá Narcis, widersetzt sich, will kein folgsames Hündchen sein und Sitz machen. In diesem Sinne ist auch die lesbische Erotik zu verstehen, die sich der Misogynie und der Gewalt mit Witz, Erotik und auch einer Spur Absurdität entgegenstellt.
„Durch die Drei-Kammern-Technologie wird der Körper des Patienten vollkommen ‚druckfrei‘ gehalten. […] Druckfrei – sagen wir, Patienten kurz vor einem vollständigen Organversagen zum Beispiel, am Abgrund des Todes, benötigen zusätzlich zu einer herausragenden Pflege, wie sie nur die besten medizinischen Einrichtungen leisten, eine Art organische Versöhnung mit der eigenen Schwerkraft, eine Rückkehr zur Verteilung der eigenen Masse, eine Rückführung in einen dem ursprünglichen, symbiotischen Zustand im Mutterleib vergleichbaren – sozusagen.“
Virtuoso, der Titel des Romans, steht für keine*n Künstler*in, sondern für eine Matratze, die Verkörperung des postkommunistischen Kapitalismus wie ihn der Westen sieht. Die Matratze wird als billige Massenware in Želešice hergestellt, um den grotesken Ansprüchen von Angebot und Nachfrage des Westens gerecht zu werden. Das gleiche gilt für die Ästhetik, die Kutlur der Ostblockstaaten, die Kindheitserlebnisse der Geflüchteten übersetzt „in Stoffe, Schnitte und Fashionstatements […]. In Falten, Nähten, Reißverschlüssen und Leder wurden ihre Erinnerungen zum westlichen Fetisch des gescheiterten kommunistischen Traums.“
Das Absurde von Artaud, die Erotik von Anaïs Nin, das Surreale und die Träume von David Lynch: Virtuoso von Yelena Moskovich wird mit vielen Vergleichen gepriesen. Letzten Endes sind alle diese Vergleiche unzureichend, um den Roman einzufangen. Denn Virtuoso ist cool, erotisch und seltsam auf eine Art, die ihresgleichen sucht.