Victor Heringer – Die Liebe vereinzelter Männer

Victor Heringer - Die Liebe vereinzelter Männer

Ich habe immer gedacht, dass ich nicht auf die Welt gekommen bin, um zu sein, sondern um gewesen zu sein, gemacht zu haben. Ich bin posthum geboren. Ich war eine Totgeburt in den Armen meiner Mutter, von der Nabelschnur erwürgt, lila, zart lila, der Arzt hat mich mit einem Wind im Mund wiederbelebt. Mein erster Kuss. Ich konnte mich schier nicht von der Last befreien, geboren worden zu sein. Von da an war es der Eigensinn des Blutes, der mich am Leben hielt.

Camilo und seine Schwester leben in der eigenartigen Diktatur der Kindheit: [W]ir sahen, ohne zu erkennen; wir hörten, ohne zu verstehen; wir redeten, und keiner nahm uns ernst. Aber wir waren glücklich unter dem Regime. Der Stoff unserer kleinen Leben war dunkel und verbarg uns völlig, eine Burka ohne Augen.“ In Ihrer Unschuld sind sie blind und taub für die Streitereien der Eltern, für die Gewalt auf den Straßen und den Folterkellern des Regimes. Doch alle Unschuld muss einmal ein Ende finden. Und so beginnt Victor Heringers ‚Die Liebe vereinzelter Männer‘ (aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch) mit der Ankunft des Waisen Cosme. Camilo lernt in kürzester Zeit die Liebe und den Hass kennen – und wird mit einem System der Gewalt konfrontiert, dessen Schatten bis in unsere Gegenwart reichen und das noch immer darauf wartet, aufgearbeitet zu werden.

Die Liebe vereinzelter Männer‘ beginnt in mehrerlei Hinsicht mythenhaft und am Ursprung. Die Geschichte beginnt zum einem am Anfang aller Dinge, als die Randbezirken Rio de Janeiros als Erstes in die Welt kamen, wo aus Urlehm sich verschiedene Formen fügten und die ersten Menschen in Erscheinung traten und sie beginnt zum anderen in der Kindheit an der Grenze zur Jugend des Erzählers. Wir schreiben das Jahr 1976: Camilo ist 13 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester in einem geschützten Anwesen in Queím, einem ehemaligen Sklavenviertel. Es ist die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, die erst 1985 ein Ende finden wird.

Eines Tages taucht Camilos Vater also mit dem Waisenjungen Cosme auf. Erst Jahre später wird Camilo erfahren, dass sein Vater ‚Doktor Pablo‘ war, einer der Folterärzte des Regimes, „der in den Kellern half, die Gefangenen am Überleben zu halten“, und das Cosme vermutlich das Kind eines seiner Opfer war. Mit Cosme betritt Camilo, der unter einer Gehbehinderung leidet, das erste Mal die Straßen seines Viertels, seine jungen Augen öffnen sich für die ihn umgebende Armut und das koloniale Erbe der Sklaverei. Und für kurze Zeit lernt Camilo die Liebe kennen. Denn ‚Die Liebe vereinzelter Männer‘ ist rückblickend erzählt, als Cosme und Camilos Eltern schon lange tot sind. Ganze zwei Wochen sind es, in denen die beiden Jungen gemeinsam die Liebe entdecken können, bevor Cosme ermordet wird. Diese zwei Wochen sind genau das, sie fühlen sich nicht wie zwei Jahre oder gar zwei Jahrzehnte an, „20.160 Minuten, viele davon vergeudet mit Schule, Duschen und Mittagessen.“ Zurück bleibt nicht einmal ein Foto, lediglich die Erinnerungen Camilos und ein paar Dokumente, die in naher Zukunft, wenn auch Camilo stirbt, in einem Müllcontainer landen werden.

Es ist eine düstere Geschichte, die Heringer erzählt, aber keine vollkommen trostlose. Camilo lebt als erwachsener Mann mit dem Wissen, dass sein Grab von der Abwesenheit seiner ersten Liebe sprechen wird, dass die darauffolgenden Lieben nur schwache Kopien sind, doch es ist genau diese Liebe, die sich in Form von väterlichen Gefühlen auf einen Straßenjungen konzentrieren, welchem dem Hass Einhalt gebieten.

Es ist wenig verwunderlich, dass Victor Heringer Multimediakünstler war: Der Text enthält Fotografien, Dokumente, Symbole in Form von Sonderzeichen und auch die Auflistung von Namen sich liebender, die Heringer auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite gesammelt hat, und die der Text dann auch gleich nutzt, um die eigene Gemachtheit zu kennzeichnen. Ebenso offensichtlich ist, dass Heringer 2011 zuerst als Dichter in Erscheinung getreten ist, bevor er im drauffolgenden Jahr seinen Debütroman ‚Gloría‘ veröffentlichte. Indem er Queím zur Keimzelle der Welt und die Schüler*innen einer Klasse zur Vorlage aller Menschen erklärt, in der die gesamte Spezies zusammengefasst und jede Eigenart und jedes Temperament vertreten ist, thematisiert Heringer (wie zuletzt übrigens auch Garth Greenwell in seinem neusten Roman ‚Small Rain‘) das älteste Dilemma der dichtenden Zunft: etwas zugleich Spezifisches und Universelles ausdrücken zu wollen.

Victor Heringer, der unter schweren Depressionen litt, hat sich 2018 kurz vor seinem 30. Geburtstag das Leben genommen. ‚Die Liebe vereinzelter Männer‘ ist Beweis dafür, was für einen Künstler und, viel wichtiger, was für einen Menschen die Welt mit seinem Tod verloren hat. In der von ihm beschriebenen Welt mag die Liebe dem Hass öfter unterliegen, als dass sie diesen bezwingt, doch – und so viel Pathos soll mir an dieser Stelle erlaubt sein, weil Victor Heringer diesen wunderbaren Roman frei von jeglichem Pathos geschrieben hat – die Liebe ist auch das Einzige, was diesen Kräften der Zerstörung Einhalt gebieten kann und das gilt es sich stets, vor allem aber in Zeiten wie den unseren, immer wieder vor Augen zu führen.

Zur Inszenierung: Zu sehen ist eine Fotografie von Manuel Moncayo aus ‚New Queer Photography‘, herausgegeben von Benjamin Wolbergs.

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