Selene Mariani – Ellis

Selene Mariani - Ellis

„Ich sitze auf einer nackten Matratze. Vor mir steht der Fernseher, es läuft Aristocats. Um mich herum gepackte Kisten und der Duft von frischer Farbe. Ich weiß nicht, dass mein Leben morgen geteilt wird und ich die erste Hälfte wegwerfen muss.“

Ellis‘ ist der Debütroman von Selene Mariani. 2022 im Wallstein Verlag erschienen, erzählt der Roman von Freundinnenschaft, Herkunft und Zugehörigkeit, Identität und lesbischem Begehren.

Abwechselnd wischen zwei Zeitebenen wechselnd, erzählt der Roman auf knapp 150 Seiten aus dem Leben von Ellis: Nach der Scheidung ihrer Eltern zieht sie in den frühen 00er Jahren mit ihrer deutschen Mutter ins das für sie fremde Deutschland. Ihr italienischer Vater bleibt in Italien, wo er eine neue Familie gründen wird. Sprache, Kultur, die Menschen – all das ist Ellis in ihrer neuen Heimat fremd. Halt gibt ihr nur ihre Freundschaft zur Nachbarstochter Grace, mit der sie auch gemeinsam zur Schule geht und für die sie Gefühle entwickeln, für die sie in diesen Jahren noch keinen Namen finden wird.

2019 treffen die beiden zufällig wieder aufeinander und wagen das Unmögliche: „Die letzten zehn Jahre in einem Satz zusammenfassen.“ Spontan entscheiden beide, gemeinsam nach Italien zu Ellis‘ Großeltern zu reisen und an ihre Freundschaft aus Kindheitstagen anzuschließen. Gerade einmal 14 Stunden mit dem Zug trennen Ellis von ihrem alten Leben in Italien, doch es könnte genauso gut ein ganzes Leben sein. Ihr Leben in Deutschland würden die wenigsten als solches bezeichnen, in Italien sehen die Einheimischen in ihr eine Touristin. Sie lebt mit einem Bein in beiden Welten, doch eines muss taub sein.

Grace bewegt sich mit einer für sie unbekannten Selbstverständlichkeit durch beide Welten, für „Feinheiten ist sie taub“. Sie ist eine Meisterin darin, Oberflächlichkeiten zu imitieren. Der unausgesprochene Konflikt legt über die gesamte Freundinnenschaft der beiden eine Grundspannung. Jeder falsche Satz droht die Wärme der Kälte weichen zu lassen, die unter der Oberfläche brodelnden Gefühle gewaltvoll hervorbrechen zu lassen. Es ist genau diese Ambivalenz der Gefühle, die ‚Ellis‘ über die klassische Geschichte der unerwiderten Liebe zu einer heterosexuellen Frau hinaushebt.

Ellis‘ besteht aus kurzen Kapiteln, bestehend aus ebenso kurzen tagebuchähnlichen Absätzen. Es ist ein Buch der Auslassungen des nicht Gesagtem. So werden Leser*innen beispielsweise das Wort ‚lesbisch‘ vergeblich suchen, auch wenn Ellis‘ Begehren im nicht Gesagten implizit ist. Damit reiht sich der Roman in eine Tradition, in der vor allem das Unkonkrete beziehungsweise das Universelle einen literarisch hohen Stellenwert erreicht. Allerdings droht der Text – auch aufgrund seiner Kürze – gerade wegen dieser Auslassungen nicht besonders viel Neues zu erzählen. All das macht ‚Ellis‘ nicht zu einem schlechten Roman, doch liest er sich vielmehr wie eine Trockenübung für das, was Selene Mariani noch in Zukunft schreiben wird.

Selene Mariani wurde 1994 geboren und wuchs wie ihre Protagonistin Ellis zwischen Italien und Deutschland auf. Nach ihrem Studium am Hildesheimer Literaturinstitut veröffentlichte sie den Erzählband ‚Miniaturen in Blau‘. ‚Ellis‘ ist ihr bisher einziger Roman.

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