„Manchmal denke ich, dass ich die Zukunft aufzeichne. Ich sage mir, dass inmitten der Verständnislosigkeit wenigstens die Wörter bleiben sollen. Vielleicht wird sie irgendjemand irgendwann verstehen. Auf jeden Fall beschließe ich, das zu bewahren, was bleibt.“
900 Tage sind vergangen, seitdem es in der alten Fabrik zur Explosion kam. Für einen Moment machte das Licht die Nacht zum Tag und Mond, Sterne, Sternbilder und graue Wolken verschwanden, bevor es zu seinem Ursprung zurückkehrte und sich selbst verschlang. Seit dieser Nacht ist die Heimat des Erzählers eine militarisierte Zone, in der kahlgeschorene Männer mit ihren Maschinengewehren herumfuchteln wie mit einem dritten Arm, die Zurückgebliebenen unterdrücken und sie ihrer Sprache berauben. In dieser Welt versucht der junge Erzähler mit seiner Mutter und mit Boris, den er im Verborgenen liebt, zu überleben.
So viel zur Handlung von ‚Napalm im Herzen‘ (aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt), dem Debütroman des Autors Pol Guasch. Denn das, was der Klappentext wie ein stringentes Narrativ präsentiert, offenbart der Roman fragmentarisch und anachronistisch. Leser*innen müssen sich die Geschichte selbst erschließen, eine Geschichte, deren Details jedoch auch am Ende des Romans im Verborgen liegen werden und unterschiedlich interpretiert werden können. Diese Suche nach einem Sinn, der sich erst in der Zukunft erschließen mag, ist programmatisch für diesen Text. Denn ‚Napalm im Herzen‘ erzählt eine Geschichte über die Wahrheit jenseits der Gegenwart.
Vieles deutet darauf hin, dass der Roman im Kontext des spanischen Bürgerkrieges, der Franco-Diktatur und der Unterdrückung der katalanischen Sprache gelesen werden will. Doch ‚Napalm im Herzen‘ verweigert sich einer solch einfachen Interpretation, enthält der Text doch keinerlei eindeutige kulturelle Marker, um Ort oder Zeit der Handlung genau festzumachen. Stattdessen strahlt der Roman eine allegorische und zeitlose Kraft aus. Diese Kraft schöpft der Roman auch aus seiner poetischen Sprache.
Zwei Lyrikbände hat Pol Guasch vor der Veröffentlichung seines Debütromans geschrieben und so verwundert es auch kaum, dass er die Sprache zum Mittelpunkt seines ersten Prosatextes macht, eine Sprache, die sowohl zärtlich als auch brutal ist und eine Bilderwelt der Gegensätze zeichnet. Nach dem Unfall in der Fabrik beginnt die wilde und ungezählte Natur vorzurücken, zwischen ihr und Mensch ist immer weniger zu unterscheiden und so erinnern die im Garten verstreuten Überreste vom Großvater des Erzählers an Blätter. Im Tod nährt er die Pflanzen wie er es im Leben mit den pflegenden Händen getan hat.
Auch für die Darstellung der in der Militärzone verbotenen Homosexualität bedient sich Pol Guasch seiner Sprache der Gegensätze. Ihre Liebe können der Erzähler und Boris lediglich im Rattenzimmer ausleben, ein kleines Zimmer wie jenes in James Baldwins ‚Giovanni’s Room‘, welches seinen Figuren Schutz bietet, sie aber auch gleichzeitig zu ersticken droht. Als die beiden Figuren in der Natur miteinander schlafen, hat der Akt etwas Animalisches und zugleich etwas Transzendentales: wie ein Tier besteigt Boris den Erzähler von hinten und zugleich ist es diese Position, die diesem plötzlich einen gottgleichen Blick auf die vor ihm liegende Wiese gewährt.
‚Napalm im Herzen‘ ist auch ein Foto-Text: Die in den Text integrierten Fotografien ergänzen Guaschs Sprachbilder und wollen wie Text gelesen werden, welche von einer Wahrheit jenseits der Gegenwart berichten. Die Fotografien setzen die Zeit außer Kraft, indem sie davon erzählen, „dass etwas geschehen ist, dass für alle Zeiten so sein wird“. Denn die Zukunft wird hier so verstanden, dass sie Hinweise gibt – wenn man sie denn lesen und verstehen kann. Und vielleicht auch deswegen bestehen einige der Kapitel aus zwei Szenen, die anachronistisch erzählt werden, uns mitten in die Handlung werfen, bevor sie dann in der Zeit zurückspringen und jene fehlenden Momente nacherzählen.
Und so erzählt ‚Napalm im Herzen‘ von Pol Guasch parabelhaft von einer Zukunft, die noch nicht stattgefunden hat und nie stattfinden wird, uns aber mit genug Neugierde etwas Zeitloses offenbaren kann. Diese Art zu schreiben muss als ein Anschreiben gegen Apathie und Gleichgültigkeit verstanden werden. Dabei bedient sich Guasch einer Sprache, die beweist, dass ihr Verfasser trotz seines jungen Alters (Guasch, wurde 1997 geboren, ‚Napalm im Herzen‘ wurde im Original 2021 veröffentlicht) sein Handwerk bestens versteht und zugleich mit ungewöhnlichen und gegensätzlichen Bildern den Blick auf Altbekanntes aufzubrechen vermag.
Guasch schreibt von Massengräbern, von Militarismus, Grenzgewalt, Umweltkatastrophen und (sprachlicher) Unterdrückung. Es sind Bilder, die unser kollektives Gedächtnis mit aktuellen Entwicklungen wie beispielsweise dem erstarkenden Faschismus, der wachsenden Homophobie und dem Klimawandel verknüpft. Doch das Herzstück dieser Geschichte machen wohl weitaus explosivere und die Zeit überdauernde Themen aus, die der Liebe und der Vergebung.