Mario Wirz – Es ist spät, ich kann nicht atmen: Ein nächtlicher Bericht

Mario Wirz - Es ist spät, ich kann nicht atmen

Hysterische Zahlenakrobatik. Von eins bis vierhundertzwanzig.  Die T-Helfer-Zellen fallen wie die Schneeflocken vor dem nächtlichen Fenster. Er ist des müde seins müde, der Verbitterung und des Selbstmitleids. Doch seit fünf Jahren ist Mario HIV-positiv und sein Leben gleicht einer langen Nacht. Er ist Ein Sofasitzer geworden, raucht eine Zigarette nach der anderen und versucht sein Leben rückwärts zu gehen, eine Bilanz zu ziehen. Aber kann man eine Lektion aus AIDS ziehen?

Die ersten drei Jahre seines Lebens verbringt er im Heim. Die Mutter beugt sich dem Willen der Großmutter: dass sie es wagt, mit 40 noch einmal zu lieben, ein uneheliches Kind, das ist in der Stadt F. mit ihren Gartenzwergen, die alles sehen und hören, undenkbar, die Schande kommt nicht ins Haus. Stolz kann man aber darauf sein, dass der bereits verstorbene Ehemann nur ein Nazimitläufer war. Weniger stolz ist man darauf, dass er sich auf dem Kampffeld erschossen hat, dass es keine Witwenrente gibt. Die Parole in F. lautet: Pass dich an.

Zeit seines Lebens wird er eine Rolle spielen. Den Klassenclown, einer der immer heiter ist und die anderen zum Lachen bringt. Bloß nicht ernst werden. Den Dichter, dem man seine Sonderlichkeit verzeiht, weil das eine mit dem anderen einhergeht. Einen Mann, der Sex hat, aber nicht küssen will, der stolz darauf ist, dass man ihm sein Schwulsein nicht anerkennt. Den Tunten, Trinen und Arschfickern verzeiht man ihr Laster nur im Austausch für Skandal, Tragik und Komik. Zumindest eine Depression oder ein Alkoholproblem muss man verheimlichen. Also rennt man dem Tod in die offenen Arme, treibt sich an den Klappen und in den Darksrooms herum, auch als AIDS mehr als ein böses Gerücht ist, dem man nicht glauben will. Eine Krankheit, die genau jenen sündhaften Akt straft, das kann nur üble Nachrede, Propaganda sein.

Und er erzählt von Jan, der sich von ihm getrennt hat, weil AIDS bedeutet, dass sich mit jedem Satz ein Boden ohne Grund auftut. Er hat sich jemand Neues gesucht, den er umarmen kann, ohne seine eigene Angst zu umarmen. Aber er sehnt ihn herbei, er wünscht sich jemanden, der ihn rettet. Er wird das Kind in sich nicht los, das von seinem Vater auf die starken Schultern genommen wird. Selbstständigkeit? Setzen, sechs.

Es ist spät, ich kann nicht atmen: Ein nächtlicher Bericht von Mario Wirz ist ein Zeitdokument. Es beschreibt die Verzweiflung der AIDS-Epidemie der frühen 90er Jahre und ein Berlin, das es so nicht mehr gibt. Das Buch zeichnet aber auch ein Sittenbild Deutschlands. Kondensiert auf 125 Seiten schreibt Wirz über Herkunft, Männlichkeitsbilder, Moral und Konventionalität, über die Bilder, die wir uns von anderen machen und von dem Drang, diesen Bildern zu entsprechen. Viele der aktuellen Themen der Literatur finden sich hier wieder. Es erzählt von einem, der auszieht, um die Kleinstadt hinter sich zu lassen und sich neu zu erfinden. Und auch in dieser universellen Geschichte können sich auch heutzutage noch viele wiedererkennen.

Mario Wirz hat am Theater als Schauspieler und Regisseur gearbeitet. Von ihm sind zahlreiche Bücher und Gedichtbände erschienen. Als Es ist spät, ich kann nicht atmen 1992 erschien, war noch nicht abzusehen, dass er zu den sogenannten Langzeitüberlebenden zählen würde. Er ist 2013 an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. 6 Wochen vor seinem Tod ist der Kurzfilm Mario Wirz (1956-2013) von Rosa von Praunheim entstanden, in dem sich beide über das Leben und den Tod unterhalten.

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