Stone Butch Blues (Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen, aus dem Amerikanischen von Claudia Brusdeylins) von Leslie Feinberg (1949-2014) ist einer der wichtigsten Klassiker der lesbischen und der trans Literatur. Der Roman erzählt die Geschichte von Jess Goldberg, einer Butch-Lesbe, die schon als Kind in mehrerlei Hinsicht eine Außenseiterin ist. Sie ist jüdisch und arm und steht von Anfang an außerhalb der binären Geschlechterhierarchie: “I’m sick of people asking me if she’s a boy or a girl,” I overheard my mother complain to my father. “Everywhere I take her, people ask me.” Um die Frage im Keim zu ersticken, stecken ihre Eltern Jess in eine Psychiatrie, wo sie lernen soll, sich dem System der Geschlechter zu unterwerfen. Ein Zuhause findet sie zuerst in den Lesbenbars. Hier lernt sie, was es bedeutet eine Stone Butch zu sein.
In den Bars wird getanzt und gelacht, Jess lernt Frauen kennen, die wie sie sind: „[…] strong, burly women, wearing ties and suit coats. Their hair was slicked back in perfect DAs. They were the handsomest women I’d ever seen. Some of them were wrapped in slow motion dances with women in tight dresses and high heels who touched them tenderly.“ Die Bars dienen aber auch als Schule des Lebens. Die ältere Butch Al nimmt Jess unter ihre Fittiche, um sie auf das vorzubereiten, was unweigerlich geschehen wird. Regelmäßig finden Polizeirazzien statt, viele der Frauen werden Opfer von körperlicher Gewalt und Vergewaltigungen durch die Polizei.
Feinberg zeichnet ein historisches Portrait der queeren und lesbischen Barkultur (der Roman deckt den Zeitraum zwischen den 50er und den frühen 90er Jahren ab), wo Butch/Femme-Dynamiken eine entscheidende Rolle gespielt haben. Von Seiten der Frauenbewegung kam der Vorwurf, dass Butches sich patriarchaler Machtstrukturen bedienten, ein Vorwurf, der Butches aus Schutzräumen, auch den emotionalen, ausgeschlossen hat. Für sie war die Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, entsprechend hoch. Um zu überleben, mussten sie eine Mauer des Schweigens um sich herum errichten, sie mussten steinern werden – oder auch Stone Butches.
Jess lässt das Nachtleben hinter sich und sucht sich einen Job in eine der Fabriken, wo es für eine Butch wie sie die Chance gibt, einen festen Job zu finden, ihre Rechnungen zu bezahlen und sich mit einer Femme niederzulassen. Hier nimmt Jess – wie auch Leslie Feinberg selbst – eine entscheidende Rolle im Aufstieg der Gewerkschaften ein. Im Hintergrund von Jess‘ Leben zeigt sich das Bild einer sich verändernden politischen wie gesellschaftlichen Landschaft. Die Bürgerrechtsbewegung, der Vietnamkrieg, Stonewall, die Studenten- und die Frauenrechtsbewegung – die Ereignisse betreffen die Arbeiter*innen in den Fabriken zunächst oft nur peripher, doch Stone Butch Blues zeigt, wie sehr die Rechte von Arbeiter*innen und queeren Menschen letzten Endes doch miteinander verwoben sind.
Dass ein Roman, der sich selbst als ‚anti-oppression/s novel‘ versteht, ebenso u.a. die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung thematisiert oder auch die Segregration bis Mitte der 1960er Jahre, ist nur konsequent. Für einen 1993 veröffentlichen Roman ist der Text also erstaunlich progressiv, ist streckenweise aber schlecht gealtert, auch weil er sich so mancher Klischees bedient. Jess‘ Welt ist bevölkert von Huren mit einem Herz aus Gold, weisen indigenen Frauen – und einer Protagonistin, der man heute einen White-Savior-Komplex attestieren würde.
Das hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass Jess als eine Art Messias-Figur angelegt ist, ähnlich wie Stephen Gordon aus Radclyffe Halls The Well of Loneliness, eine Ahnenreihe, in die sich Feinberg übrigens auch selbst verortet. Denn wie alle Figuren im Roman ist Jess zugleich überzeichnet und seltsam formlos. Das entspricht natürlich Jess‘ Innenleben: Sie muss formlos sein, weil sie in keine der Geschlechterkategorien der Gesellschaft passt. Gleichzeitig steht ihr Pfad stellvertretend für so viele andere genderqueere Menschen, die pioniergleich vorangeschritten sind: “Once again I couldn’t see the road ahead. I was still steering my own course through uncharted waters, relying on constellations that were not fixed. I wished there was someone, somewhere I could ask: What should I do? But no such person existed in my world. I was the only expert on living my own life, the only person I could turn to for answers.”
Auch wenn Stone Butch Blues autobiographische Elemente enthält, ist es ein fiktionaler Roman. Trotzdem kann man in diesen Worten unschwer sowohl Jess als auch Feinberg als schreibende Person heraushören, die mit dieser Geschichte Neuland betreten hat und mit den zur Verfügung stehenden Worten eine Sprache für etwas finden musste, was so noch keinen Ausdruck in der Literatur gefunden hatte.
Feinberg selbst schreibt, dass die im Roman dargestellte (sexualisierte) Gewalt weder überflüssig noch anzüglich sei – doch sie ist allgegenwertig. Um ihr Überleben zu sichern, entscheidet sich Jess, männliche Hormone zu nehmen und sich einer Mastektomie zu unterziehen. Erst viele Jahre später wird sie aufhören, sich regelmäßig die Hormone zu spritzen. Was wie eine der Geschichten klingt, die Konservative ausschlachten, um trans Menschen ihr Existenzrecht abzusprechen, ist viel mehr die Geschichte einer Befreiung und des Erkundens. Dieser Wandel, der heutzutage viel zu schnell als Detransition verschrien ist, zeigt Geschlecht nicht als geradlinigen Weg von A nach B, sondern als Erforschen der Zwischenräume, ein Suchen und Tasten, das keine Reue kennt. Schon vor 30 Jahren war Stone Butch Blues mutig genug, dass es sich für kein entweder/oder-Szenario entscheiden wollte.
Man kann dem Roman eine Menge vorwerfen, dass er zu lang ist und gleichzeitig zu viel auf einmal erreichen will, seine klischeehafte Prosa und seine oft zu blasse Figurenzeichnung – und doch vergibt man dem Text all diese Schwächen, weil Feinberg doch etwas Anderes, etwas viel Wichtigeres schafft: das Streben nach Freiheit und die kompromisslose Suche nach einem authentischen Ich seiner Figur Jess stets greifbar zu machen. Stone Butch Blues ist wie die besten Klassiker so frustrierend wie erhellend, überholt und doch modern, vertraut und doch wegweisend.
Neben Stone Butch Blues hat Leslie Feinberg ebenso die Sachbücher Transgender Warriors: Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman und Trans Liberation: Beyond Pink or Blue geschrieben. Feinbergs Texte waren wegweisend für die Gender und Queer Studies. “ Feinbergs letzte Worte sollen „Remember me as a revolutionary communist.“ gewesen sein, entsprechend hat Feinberg die Rechte an Stone Butch Blues erworben und eine kostenfreie PDF des Romans auf der offiziellen Webseite zur Verfügung gestellt.