Wer war John Giorno? Die Frage können vermutlich nur die wenigsten beantworten. Und das trotz Giornos Nähe zu Andy Warhol, William S. Burroughs und anderen Superstars der Kunstwelt. Ihm ist ein Schicksal widerfahren, was in der Regel die meisten Frauen erdulden mussten – was in Anbetracht seines maskulinen Auftretens und seiner Herkunft aus einer italienisch-amerikanischen Familie der Mittelschicht nicht einer gewissen Ironie entbehrt: John Giorno wurde von den Seinen nicht ernst genommen, oft nur als das Anhängsel seiner weitaus berühmteren Partner wahrgenommen und ist so aus den meisten Erzählungen still und heimlich ganz einfach getilgt worden.
Mit ‚Große Dämonenkönige: Ein Leben voller Poesie, Sex, Kunst, Tod und Erleuchtung‘ (aus dem Amerikanischen von Urs Engler) legt der Dichter, Performer, bildender Künstler und Aktivist John Giorno seine Autobiographie vor. Um genau zu sein, hat John Giorno eine Künstlerautobiographie geschrieben, die sich allerdings nicht dazu herablässt, onkelhaft die eigene Kunst zu erklären, sondern stattdessen die verschiedenen Persönlichkeiten in den Vordergrund stellt, die das eigene Werden und das seiner Kunst geprägt haben.
Giorno kannte jeden und war überall mit dabei und so plaudert er in ‚Große Dämonenkönige‘ ausführlichst aus dem Nähkästchen über die New Yorker Kunstszene der 50er bis 70er Jahre. Er lernte Allen Ginsburg kennen, dessen homoerotisches Gedicht ‚Howl‘ ihn befreite und ihm die Gewissheit gab, dass Lyrik mehr sein kann. Mit Andy Warhol war er in einer Beziehung, bevor dieser zur Ikone der Popkunst wurde und der ihm seinen Wunsch erfüllte, ein Filmstar wie Marilyn Monroe zu sein, indem er ihn zum Protagonisten seines sechseinhalbstündigen Kultfilms ‚Sleep‘ machte. Er erzählt aber auch von der Entstehungsgeschichte des eigenen Projekts Dial-a-Poem, seinem Aktivismus während der AIDS-Epidemie sowie von skurrilen Dreiern mit Allen Ginsburg und William S. Burroughs oder von seiner Zeit in Indien, um in der Lehre des Buddhismus Erleuchtung zu finden. All diese Episoden stehen gleichberechtigt nebeneinander, um – wie es der Untertitel der Autobiographie verspricht – eine Geschichte voller Poesie, Sex, Kunst, Tod und Erleuchtung zu erzählen.
Besonders zu Beginn wirkt Giornos Schreiben über seine Zeit mit Andy Warhol streckenweise langatmig, repetitiv und gar oberflächlich. Doch scheint dahinter eine gewisse Berechnung zu liegen, bedient er sich doch der stilistischen Eigenheiten der Künstler und ihrer Werke, über die er gerade schreibt – wie Wahrhols Arbeiten mit einem sich wiederholenden Motiv, welchem er der Trivialität entrissen hat. Den Bearbeitungsprozess zu ‚Sleep‘ fasst Warhol so zusammen: „»Wenn du etwas Interessantes siehst, schneid es raus, zum Beispiel, wenn John sich umdreht oder gähnt, schneid es raus«, sagte Andy, »und nichts Schönes übrig lassen.«“ Eine Beschreibung, die auch Giornos Text über diese Lebensphase zusammenfasst. Und auch er scheint sich mit seinem konstanten Namedropping am Zeitalter des 15minütigen Superstars zu orientieren, an einer Popkunst, in der alles Oberfläche und alles trivial ist.
Giorno mag privilegiert genug sein, dass er von seiner Familie in seinem Bestreben, Dichter zu werden, finanziell unterstützt wird, er widersetzt sich aber auch gesellschaftlichen Konventionen, so dass er in mehrerlei Hinsicht zum gesellschaftlichen Außenseiter wird. Das geht über seine Einstellung gegenüber Sexualität und Drogen hinaus und betrifft auch den offenen Umgang mit dem eigenen Schwulsein in seiner Kunst. Denn das macht ihn in der homophoben Kunstwelt, in der die meisten Künstler in seinem Umfeld schnell gelernt haben, die eigene Homosexualität zu verbergen und höchstens in geheimen Codes zum Ausdruck zu bringen, zu einer echten Ausnahme.
Mit Persönlichkeiten wie William S. Burroughs umgibt sich Giorno auch mit Menschen, die für ihren Antisemitismus und ihre Misogynie bekannt sind. Ihren verbalen Ausbrüchen begegnet der Buddhist mit einer karmischen Gelassenheit, die man heutzutage vermutlich als die Ignoranz eines alten, weißen Mannes abschreiben würde. Teilweise mag das sicherlich stimmen, doch liest sich Giornos Autobiographie nicht nur wie eine Liebeserklärung an die zahlreichen Menschen, die Teil seines Lebens waren, sondern auch als der Versuch, keinen Stein auf dem anderen zu lassen – eine Zerstörungswut, ja, eine Lust am Verrat, wie sie auch die Schriftsteller Jean Genet und Edmund White in ihren Werken empfunden haben. Viele der Protagonisten in Giornos Autobiographie mögen an der einen oder anderen Stelle in seinem Leben Helden für ihn gewesen sein, doch indem er seinem Credo treu bleibt, nichts zu verschweigen, entblößt er sie vor allem als zutiefst gewöhnliche Menschen in all ihrer Banalität.
‚Große Dämonenkönige‘ von John Giorno vermag, was nur große Kunst kann: verschiedenste, oftmals widersprüchliche Gefühle hervorrufen, langweilen und unterhalten, mitreißen und enervieren und dabei stets für seine Leser*innen gewinnbringend sein. Und glücklicherweise versucht Giorno erst gar nicht, seine Kunst zu erklären, sondern lädt vielmehr dazu ein, diese als Ergebnis dieses bewegten Lebens selbst zu entdecken.