Hervé Guibert – Verrückt nach Vincent & Reise nach Marokko

Hervé Guibert - Verrückt nach Vincent & Reise nach Marokko 01

Die beiden autofiktionalen Erzählungen ‚Verrückt nach Vincent‘ (1989) und ‚Reise nach Marokko‘ (1982) legen Zeugnis ab von der Obsession Hervé Guiberts gegenüber dem jungen Vincent, die ihn viele Jahre bis fast zu hin seinem Tod verfolgt hat. Im Albino Verlag sind beide Erzählungen, in der Übersetzung von JJ Schlegel, erstmals gemeinsam erschienen.

„Was war es? Eine Leidenschaft? Eine Liebe? Eine erotische Zwangsvorstellung? Oder eine meiner Erfindungen?“

Was die Texte eint, ist mehr als ihr Sujet, es ist auch ihre Form: Beide Texte gleichen einem Tagebuch, bestehend aus oft skizzenhaften Szenen, die scheinbar zu perfekt sind, um einfach runtergeschrieben worden zu sein. Doch Guibert hat dieses Schreiben – in Anlehnung an Thomas Bernard und Roland Barthes – jahrelang mit seinen Tagebucheinträgen perfektioniert. Und so verwundert es auch kaum, dass sich viele der Passagen aus den Erzählungen in seinen Tagebüchern wiederfinden.

Verrückt nach Vincent‘ beginnt mit dem Ende, mit dem Sprung Vincents aus einem Fenster in den Tod, und arbeitet sich von dort zu dem Beginn ihrer Beziehung vor. Diese Rückwärtserzählung ist der Versuch, sich freizuschreiben von den Demütigungen, welche diese Liebe, dieses Verrücktsein, geprägt haben. Indem Guibert den Anfang ans Ende setzt, vermag er zumindest in der Fiktion zur Unschuld zurückkehren. Vincent selbst ist nicht schwul, er weist Guibert aufs Grausamste zurück, nur um ihn wieder von sich abhängig zu machen. In dieser Hinsicht sind Vincent und Guibert Spiegelfiguren: So wie sich Vincent für seine Drogensucht erniedrigt, erniedrigt sich Guibert für seine Sucht nach Vincent.

Dass der Albino Verlag ‚Verrückt nach Vincent‘ an den Anfang des Buches gestellt hat, um Guiberts rückwärtsgewandtes Schreiben fortzusetzen, macht allerdings auch dramaturgisch Sinn. Der sieben Jahre später erschienene Text hat mehr Zugkraft und ist rein objektiv die stärkere Erzählung.

Denn in ‚Reise nach Marokko‘ verliert sich Guibert vor allem in der ersten Hälfte des Textes, in seinem Versuch eine exotische Fremde zu evozieren, die über die Liebe zu einem Jüngling eine Rückkehr zur Unschuld verspricht, allerdings in allerlei (rassistischen) Klischees. Darüber kann auch sein bereits hier perfektionierter Stil nicht hinwegtäuschen, der es hier gerade deswegen oft nicht vermag, seine Leser*innen zu betören. Auch die Thematisierung der Päderastie, die hier aber auch im Kontext der Zeit und als Hommage an André Gide (und Oscar Wilde) gelesen werden muss, wird die moderne Leser*innenschaft vermutlich vor den Kopf stoßen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es Guibert nicht wirklich um Päderastie geht. Vielmehr dient sie als Mittel zum Zweck, als Ausdruck dessen, was unerreichbar bleiben muss: die kindliche Unschuld. Und nur ein Schriftsteller wie Hervé Guibert kann mit einer denkbar verstörenden Szene ausdrücklich zeigen, dass sein sexuelles Begehren ein anderes ist.

Hervé Guibert, der sich in Paris auch einen Namen als Photograph gemacht hat, hat einst sein Schreiben mit seinen Photographien verglichen. Hier liegt das radikale Potential seines Schreibens verborgen: Im Hinschauen, im nicht Beschönigen oder Retuschieren der eigenen Ungeheuerlichkeit. Und das ist – in all seiner Unvollkommenheit – stets lesenswert.

Hervé Guibert - Verrückt nach Vincent & Reise nach Marokko 02
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