Hervé Guibert – Meine Eltern

Hervé Guibert - Meine Eltern

Für einen Schriftsteller ist die Familie eine wahre Goldgrube: anstatt seinen Erbteil einzufordern, verzichtet der Autor lieber darauf und lässt sich diesen direkt in Form von Fiktion (?) auszahlen.

Meine Eltern‘ von Hervé Guibert (aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Katrin Thomaneck) beschreibt Szenen aus der Kindheit und Adoleszenz des Schriftstellers. Der Text, ursprünglich 1986 und in deutscher Übersetzung erstmalig 2017 im diaphanes Verlag erschienen, ist ein fast schmerzhaft nahes Heranzoomen an die inneren Vorgänge der eigenen Familie, eine Nahaufnahme, die keinerlei Retuschieren erlaubt. Der unglaubliche Geiz und die Habgier der Eltern, die Prügelstrafen des Vaters, jedes noch so hässliche Detail wird in die Kamera gehalten und dem voyeuristischen Leser*innen präsentiert.

Dieses Familienportrait ist zugleich individuell und doch universell, stellt es doch auch ein Abarbeiten des Ödipuskomplexes dar. Doch hier – bedingt durch die Homosexualität des Knaben – ist der Vater zugleich Lustobjekt als auch Rivale. Jeden Abend tunkt der Vater „kleine Wattestücke mit Kölnisch Wasser und streicht mit ihnen zwischen jedem einzelnen meiner Zehen entlang, es ist eine unendliche Lust, die geschickten Bewegungen meines Vaters modulieren mein Seufzen.“ Zugleich steht er zwischen seinem Sohn und den Männern, die seine Lust schließlich befriedigen sollen, er verfolgt sie wie ein Schatten, beäugt die aufkeimenden Beziehungen misstrauisch, entfremden sie ihn doch von seinem Sohn und führen ihn auf den schändlichen Weg der Homosexualität.

Hervé Guibert war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Photograph, eine Leidenschaft, mit der er sich auch schreibend auseinandergesetzt hat – wie in dem ursprünglich 1981 und im Reclam Verlag 1993 erschienenen Text ‚Phantom-Bild‘ (aus dem Französischen von Thomas Laux). Dieses Interesse wird auch in ‚Meine Eltern‘ deutlich, dessen oft nur kurze Szenen an Schnappschüsse erinnern, die aus ihrem Rahmen ausbrechen wollen oder wie Guibert es selbst beschreibt: „Und dass dieses Phantombild von nun an nach etwas anderem drängt als dem Bild – nach der Erzählung.

In einer Episode – Guiberts Mutter liegt nach einer Mastektomie im Krankenhaus – bezieht sich Guibert eindeutig auf Roland Barthes‘ Klassiker über die Photographie ‚Die helle Kammer‘ (aus dem Französischen von Dietrich Leube). Beide kannten sich auch persönlich, Barthes sollte ursprünglich für den jungen Guibert eine Mentor-Rolle übernehmen – und (um ausnahmsweise mal ins Anekdotenhafte abzudriften) für ‚Meine Eltern‘ ein Vorwort beisteuern. Unter der Voraussetzung, dass der 22jährige Guibert mit dem 61jährigen Barthes schläft. Dass ‚Meine Eltern‘ kein Vorwort enthält, verrät wie diese Geschichte letzten Endes ausgegangen ist.

Meine Eltern‘ ist wie fast alle Texte Guiberts Autofiktion. Doch Guibert macht es seinen Leser*innen nicht so einfach, als dass sie diesen Text vielleicht stilistisch und formal überhöht aber doch rein autobiographisch lesen könnten, fließen doch sowohl Tagebucheinträge als auch fiktive Erzählungen mit in den Text ein. Dass Guibert dieses Verfahren im Text reflektiert, ist auch insofern interessant, als dass ganze Passagen aus ‚Meine Eltern‘ seinen Tagebüchern entstammen. Aus diesen stammt im Übrigen auch das einleitende Zitat dieser Rezension, welches deutlich macht, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in den Texten Guiberts fließend sind.

Auch ‚Meine Eltern‘ verhandelt altbekannte Themen Guiberts wie Tod, Liebe und Lust, Krankheit und Körperlichkeit. Dass der Text mehrere Jahre vor ‚Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat‘ (aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel) erschienen ist, zeigt einmal mehr, dass Guibert nicht erst mit seiner eigenen AIDS Erkrankung zu diesen Themen gefunden hat, seine Erkrankung seinem Schreiben viel mehr eine neue Dimension verliehen hat.

Schon oft wurde geschrieben, Hervé Guiberts Werk sei radikal und von „zärtlicher Grausamkeit und grausamer Zärtlichkeit“, wie es Ulrich Weinzierl in der FAZ seinerzeit beim Erscheinen von ‚Dem Freund…‘ zuerst getan hat. Und doch treffen diese Worte auch knapp vierzig Jahre nach Erscheinen von ‚Meine Eltern‘ den Kern von Guiberts Schreiben. Und auch vierzig Jahre später schreiben die wenigsten so radikal ehrlich wie er es getan hat.

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