„wer hätte gedacht, dass die hölle das dach eines hochhauskomplexes sein würde, ohne ausgang, dafür in anwesenheit des polyküls?“
Hengameh Yaghoobifarahs zweiter Roman erzählt vom titelgebenden Schwindel. Dem Schwindel des Begehrens und des Verknallt seins. Dem Schwindel der Gender Euphorie und Dysphorie. Dem Schwindel der Höhe und des Highs.
‚Schwindel‘ beginnt denkbar filmreif: Noch eben hat Ava während ihres Dates mit Robin über den Geschmack des Paradieses sinniert, als ihre kleine Wohnung von ihren zwei anderen Liebhaber_innen im wahrsten Sinne des Wortes heimgesucht wird. Delia hat das Handy bei Ava liegen lassen und Silvia will es nicht länger auf sich sitzen lassen, von Ava geghostet zu werden. Ava wiederum möchte nicht mit den Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen konfrontiert werden und flüchtet auf das Dach des 15-stöckigen Hochhauses – verfolgt von ihren Liebhaber_innen. Und so nimmt der Anfang des Hot Dyke Summers kurzerhand eine unerwartete Wendung: Ohne Schlüssel und ohne Handy müssen die vier trotz aller Konflikte gemeinsam einen Weg hinunter aus den schwindelerregenden Höhen dieses Gefängnisses ohne Mauern finden.
Dieser Roman lebt von der „Spannung durch Gleichzeitigkeit“, denn Hengameh Yaghoobifarah nutzt die simple wie äußerst effektive Ausgangslage des Textes, um vier ganz verschiedene Persönlichkeiten aufeinanderprallen zu lassen, um so gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen eine menschliche Facette zu verleihen. Denn das Ziel, einen Weg vom Dach zu finden, gerät im Angesicht von Streitigkeiten und dem Buhlen um Avas Aufmerksamkeit schnell in den Hintergrund: „einerseits sind sie alle pervers, andererseits gierig, missgünstig und irgendwie verlogen. die chancen auf vier eintrittskarten ins paradies sind relativ klein.“
Mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht, knüpft Yaghoobifarah neben den Szenen auf dem Dach einen Flickenteppich aus vier verschiedenen Biografien. Der Reihe nach offenbaren sich die Lebensrealitäten dieser Figuren und die Ereignisse, welche ihr Begehren, ihr Verständnis von der Welt und auch von sich selbst geprägt haben. ‚Schwindel‘ verhandelt queere Beziehungsmodelle, Definitionen von lesbisch, intergenerationale Konflikte, die Kluft zwischen Sprache und aktivem Handeln, TERF Wars, die Politik und Ethik des Begehrens oder auch die Frage, wieso (wie es auch kürzlich erst McKenzie Wark attestiert hat) Ketamin die trans Droge Nummer 1 ist. Und das wirkt an keiner Stelle erzwungen, sondern erstaunlich leichtfüßig und lebendig.
Hengameh Yaghoobifarah zeigt die Grabenkämpfe einer Community, welche allzu gern dazu neigen, in den Vordergrund zu stellen, was diese voneinander unterscheidet. Indem Yaghoobifarah diese vier Figuren als Stellvertreter_innen wie in einer Art Experiment aufeinander loslässt, wagt Yaghoobifarah die beinahe utopisch anmutende Vision einer Gemeinschaft, die mehr eint als sie voneinander unterscheidet. Klingt unverschämt queer? Das ist es auch. Und auch auf formaler Ebene thematisiert der Text seine Queerness, indem er Prosa und Poesie nebeneinanderstellt, bestimmte Passagen durchgängig kleingeschrieben sind oder an einer Stelle sich auch einfach mal die Worte zu einem schwindelerregenden Strudel konzentrieren.
‚Schwindel‘ erzählt von der Fluidität des Begehrens, der Geschlechter und auch der eigenen Biografie. Und ganz nebenbei stellt der Roman die Queer Experience mit einer Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit dar, wie sie nur jene kombinieren können (ohne mit dieser Aussage komplett im Essenzialismus abdriften zu wollen), die sie selbst gelebt haben. Was dabei herauskommt, ist queere Literatur, die wild, sexy, zärtlich, messy, authentisch, zum Schreien komisch – und mit Hengameh Yaghoobifarahs unverwechselbarer Signatur auf dem deutschen Buchmarkt tatsächlich unvergleichlich ist. Das ist nun wirklich etwas schwindelerregend. Oder auch Prädikat: Jungle Juice Platinum.