„Dabei suchte Marie nicht ihren Blick. Sie starrte auf ihre Wangen, ihre Stirn, ihre Haube. Dann starrte sie auf ihre Hände und Arme und dann auf Schultern und Brust, die ein dickes Tuch verhüllte. Madeleine fühlte sich befragt, entkleidet, gehäutet. Es war ihr, als sähe Marie ihren Lungen beim Atmen zu und ihrem Herzen beim Schlagen und als fragte sie dauernd: Wie geht es Ihnen da drinnen?“
‚Wachs‘ von Christine Wunnicke ist ein als Liebesgeschichte und historischer Roman verkleideter Text, dessen Kern von der existenziellen Obsession zweier Frauen, das Innerste der Dinge zu ergründen, erzählt. Die eine, Madeleine Basseporte, zerrupft Blumen, „um ihr Innerstes zu betrachten und abzuschildern für naturkundliche Tafeln“, die andere, Marie Biheron, seziert Leichen, weil sie „Gottes vornehmste Schöpfung verstehen“ will.
Das vorrevolutionäre Paris: Marie Biheron und Madeleine Basseporte sind für ihre Zeit unkonventionelle Frauen, die beide nicht viel mit anderen Menschen anfangen können. Die eine ist an diesen nur interessiert, wenn sie ihre sterblichen Überreste sezieren und aus ihrem Innenleben Wachsmodelle anfertigen kann, die andere begnügt sich damit, Bilder der pflanzlichen Anatomie über ihre Augen aufzunehmen und durch ihre Hand auf das Papier fließen zu lassen. Beide lernen sich kennen, als Marie mit 14 Jahren bei der wesentlich älteren Madeleine das Zeichnen lernen soll. Sie erkennen sich in der Seltsamkeit der jeweils anderen wieder. Doch was ihre spätere Liebe ebenso eint, ist, dass sie der Not wegen arbeiten, die Gelehrsamkeit ihnen aufgrund ihres Geschlechts jedoch nicht zugestanden wird, etwas wogegen sich beide ihr Leben lang zur Wehr setzen müssen.
Christine Wunnicke erzählt anhand historischer Quellen und doch fiktionalisiert das Leben von Marie Biheron und Madeleine Basseporte. Dass ‚Wachs‘ im Gegensatz zum klassischen historischen Roman nicht verstaubt daherkommt, ist dem Talent von Wunnicke geschuldet. Weil sie ihre Figuren auch über eine Distanz von über 200 Jahren als echte Menschen begreift, ist ‚Wachs‘ ein verspielter, rührender und überraschend humorvoller Roman (überraschend natürlich nur, wenn man wie ich sonst noch nichts von Christine Wunnicke gelesen hat). So lässt die Autorin ihre Figuren im Pariser Stadtteil Marais – dem heutigen Schwulenviertel – durchaus augenzwinkernd das Sakrament für eine lesbische Ehe erhalten oder in den alten Kerkerlöchern cruisen.
Wunnicke reduziert die Biografien der beiden Frauen auf das allernötigste in zehn episodenhaften Kapiteln und deckt dabei äußerst fragmentarisch die Jahre zwischen 1733 und 1790 ab. Indem der Text sich auf einzelne Details fokussiert, ja, den Text wie Marie die Natur zerschneidet, dringt er zum Wesentlichen, den Kern, die Wahrheit vor: „Mit einer gewissen Rührung blickte sie ins Innere ihrer Rechten. An der menschlichen Hand hatte sie stets Gefallen gefunden. Substanz und Mechanik waren hier tadellos. Wie ein Uhrmacher, der jede Uhr notgedrungen von innen sieht, sobald er eine von außen betrachtet, sah Marie Biheron in Körperteile hinein. Sie häutete alles, in alter Routine, mit einem einzigen Blick. Versammelte sie ihren Geist, sah sie in ihrer Hand ihr ganzes Leben.“ Und natürlich ließe sich auch argumentieren, dass der Text so wie auch der französische Volkskörper mit den rollenden Köpfen der französischen Revolution in seine Einzelteile zerfällt und aus diesen (ähnlich wie Frankensteins Monster) neu zusammengesetzt werden muss.
‚Wachs‘ von Christine Wunnicke mag ein historischer Roman sein, doch er hat auch eine zeitlose Komponente, weil er von zwei Frauen erzählt, die aus der Zeit gefallen sind, weil sie gegen ihre Zeit handeln. Der Roman erzählt von zeitlosen Themen, vom Versuch, die Welt zu verstehen zu wollen – auch dann, wenn man in die Mühlen der Zeit gerät und sie einem vollkommen fremd zu werden droht.