Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat war 1990 bei seiner Veröffentlichung in Frankreich ein Skandal. Guibert, der in Frankreich durchaus bekannt war, zwang, durch die schonungslose Beschreibung seiner AIDS Erkrankung, die Öffentlichkeit dazu, über die diese zu sprechen. Doch der eigentliche Skandal war – und ist – die Figur Muzil, welche die französische Presse in dem autofiktional angelegten Werk sehr schnell als den weltberühmten Philosophen Michel Foucault entlarven konnte. Sechs Jahre nach seinem Tod war plötzlich klar, dass Foucault nicht wie offiziell bekannt an Krebs, sondern an den Folgen einer AIDS Infektion gestorben war.
Guiberts Schreiben ist eines gegen die Verzweiflung. Doch es ist auch ein desillusioniertes Schreiben, denn immer wieder wird deutlich, dass dieses Zeugnis zum einem nicht den Verlauf der Krankheit stoppen kann, zum anderen nur die bereits vorhandenen Mythen über die Krankheit bestätigt. Dann wäre da noch der Amerikaner Bill, der Freund, der ihm nicht das Leben gerettet hat. Der Mitarbeiter eines Pharmazieunternehmens verspricht dem Erzähler immer wieder die Möglichkeit eines heilbringenden Medikaments, ein unerfülltes Versprechen, welches er nutzt, um sich selbst als messianischen Retter zu inszenieren. Und dazwischen Besuche in den barackenhaften Krankenhäusern am Rande der Stadt und der Blick in den Spiegel, wo er fürchtet, dass ihm ein allzu menschlicher begegnet „wie jener der Gefangenen in ‚Nacht und Nebel‘, dem Dokumentarfilm über die Konzentrationslager.“
Guibert schreibt aber mindestens genauso ausführlich über Muzils Krankheit wie über seine eigene. Muzil, der seine Sexualität im Geheimen und seine Fantasien in den Badehäusern von San Francisco auslebt, ist womöglich aber selbst über seine Diagnose im Unklaren. Ärzte lassen einem immer, so erzählt er, ein Schlupfloch, wie viel die Patienten tatsächlich über das todesverkündende Urteil wissen wollen. Er, der den klinischen Diskurs geprägt hat, kann der Krankheit auch nur mit Schweigen begegnen. Dass Guibert heimlich über die Krankheit seines Freundes schreibt, weiß er schnell zu entschuldigen. Beide Männer sind durch die Krankheit unwiderruflich miteinander verbunden. Über seinen Freund zu schreiben, heißt auch über Guibert selbst und das, was ihm bevorsteht, zu schreiben.
Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat ist ein Buch, das vor den Kopf stößt und es auch soll. Diese Provokation hat Guibert konsequent fortgeführt mit dem Roman Mitleidsprotokoll und dem Film La Pudeur ou l’impudeur, in denen er seinen körperlichen Verfall minutiös festhält. Guibert ist 27. Dezember 1991 gestorben, drei Jahre nach seiner Diagnose und wenige Tage nach einem fehlgeschlagenen Suizidversuch.
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