„und jetzt sitze ich noch immer hier, nach acht Jahren, in denen andere ein- und ausgezogen sind, in denen meine Hündin alt wurde und starb, Liebesbeziehungen endeten und neue anfingen, um auch zu enden, und noch immer ruhen unsere Gespräche auf meinem Laptop, warten geduldig, ziehen von einer Festplatte auf die nächste, und jedes Mal, wenn ich sie anklicke, friert etwas in mir ein, ganz so, als ließe es sich daran zugrunde gehen, als bestünde die Möglichkeit, dieses Vorhaben nicht zu überleben, als hätte deine Stimme die Macht, aus dem Licht nach mir zu greifen und mich zu sich zu holen“
2020: Die Welt steht still, die Gedanken wandern. Während der Pandemie erkrankt die Erzählerin von Kaśka Brylas autofiktionalem und nun mehr dritten Roman ‚Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich‘ schwer an Covid. Verantwortung und Versprechen binden sie sie im Angesicht eines möglichen Todes an das Leben. Die Verantwortung gegenüber dem verwaisten Krähenbaby Karl und das Versprechen, das sie ihrem Vater vor seinem Tod gegeben hat: Seine Geschichte und sein Überleben als Gefangener eines sowjetischen Gulags zu erzählen.
Es ist der Beginn der Pandemie, wenig ist über den Verlauf der Krankheit bekannt und selbst unter geschultem Personal ist die Angst groß, sich anzustecken. Bryla schreibt es nicht aus, die Parallelen zur AIDS-Epidemie sind jedoch nicht zu übersehen. Ähnliches gilt für die literarischen Strategien, die sie entwickelt, um sich der Ungewissheit zu stellen. Schreiben bedeutet Leben, es bedeutet Zeugnis abzulegen – für sich und für die anderen: „aber dieses Versprechen ist ein See, der ein Meer ist, das man der Länge nach durchschwimmen muss, weshalb ich mich davor drücken wollte, jetzt drängt es sich immer öfter an mich heran“. Es ist der Versuch, dem Tod etwas Bleibendes entgegenzusetzen, und das künstlerische Schaffen in einer womöglich verkürzten Lebenszeit zu vollenden.
Im Kontext von Krankheit stellt der Text auch Fragen nach Solidarität und Verantwortung, der individuellen wie der kollektiven. Bevor sie die Verantwortung für die Geschichte ihres Vaters übernommen hat, war es sein Leben, das in den Händen der Erzählerin lag. Denn als er 2009 an Krebs erkrankt, pflegt sie ihn bis zu seinem Tod. Nun ist das Leben des zerbrechlichen Krähenbabys Karl, das sie zu retten versucht: „nur ich werde bleiben und Karl beschützen, werde die Tage über ihn wachen wie Gollum über seinen Schatz, werde die graue Katze verjagen, wenn sie unter den Wägen auf eine Gelegenheit wartet, sich anpirscht, um Karl den Nacken durchzubeißen, ich werde Hühnerherzen in seinen Schlund stopfen, bis er zum stärksten Vogel wird, werde die ersten Flugversuche erleben“. Doch wessen Hände werden sich schützend über sie legen, wessen Hände werden ihren von der Krankheit gebeutelten Krankheit stützen? Wer zeigt sich mit ihr solidarisch?
Brylas Erzählerin lebt auf einem Wagenplatz, der nach Werten des Miteinanders und Füreinanders funktioniert. Die Schwere der Krankheit überfordert und verschreckt jedoch viele der Anwohner*innen, so dass sie größtenteils auf sich allein gestellt ist. Dort, wo das Leben auf dem Spiel steht, kann es keine Solidarität geben – diese Lehre aus seiner Zeit im Gulag hat ihr Vater ihr mit auf den Weg zu geben versucht. Bisher hat sie sich dieser Weltansicht verweigert – zurecht? Der Text schafft es, unbequeme Fragen über (linke) Solidarität zu stellen, darüber an welche Geschichten wir uns erinnern und welche wir uns erzählen, ohne dabei einfache Antworten geben zu wollen.
‚Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich‘ ist als Dialog zu verstehen, als Gegenüberstellung von Perspektiven. Denn in den Text eigebunden sind Zitate aus Texten über die sowjetischen Gulags und die Massenmorde durch das stalinistische Regime, aber auch Zitate aus Tonbandaufnahmen des Vaters. Dieses Gespräch verhandelt die Grenzen der Solidarität – zwischen Queerness, den Rechten von Tieren, linkem Widerstand, Idealen und Ideologien. Der Roman ist in langen, atemlosen Sätzen geschrieben, die sich über Seiten ziehen und wie der Erzählerin ihre Krankheit einem beim Lesen schwer auf der Brust liegen, die ihr Netz auswerfen und, ähnlich der Verästelung einer Lunge, die scheinbar nicht zusammenhängenden Themen des Romans zusammenführen.
Dieser Flickenteppich aus Gedanken, Zitaten, Fakten und Gefühlen ist nicht daran interessiert, einen leicht verständlichen Überblick historischer Dimensionen zu produzieren. Vielmehr ist dieser Roman als der persönliche Versuch seiner Erzählerin (beziehungsweise seiner Autorin) zu verstehen, dieser Geschichte irgendwie Herr zu werden. ‚Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich‘ reiht sich in eine lange Tradition von Texten ein, die queeren Widerstand, das Leid der Tiere, Krieg, Verbrechen und Ausbeutung thematisieren und zueinander in Bezug setzen. Das ist nicht einfach und sehr beeindruckend.
