Selby Wynn Schwartz – Wir waren Sappho

Selby Wynn Schwartz - Wir waren Sappho

Dann sagte Kassandra: Es ist nicht wahr, dass Sappho nichts geschah außer ihrem eigenen Leben. Habt ihr vergessen, dass eine Dichterin sich im Schatten der Zukunft niederlässt? Sie ruft, sie wartet. Unsere Leben sind die verlorenen Verse ihrer Fragmente. Es gibt Hoffnung auf ein Werden in all unseren Formen und Gattungen. Wir werden die Zukunft der Sappho sein.

Dieser Text ist ein Palimpsest. Wie auch Sapphos Gedichte sind die Biografien von Selby Wynn Schwartz‘ Protagonistinnen wie Lina Poletti, Sarah Bernhard, Renée Vivienne, Virginia Woolf, Romaine Brooks und Eileen Gray fragmentarisch. Doch Schwartz schließt die Lücken mit der Kraft der Imagination, so dass ein Flickenteppich aus Fakt und Fiktion entsteht. Ein Flickenteppich, der vignettenhaft aus Prosa und Essay, Gesetzestexten und medizinischen Texten und den Gedichten Sapphos verwoben ist.

Wir waren Sappho‘ (aus dem Englischen von Luca Mael Milsch) ist das Debüt von Selby Wynn Schwartz. Der Roman beschreibt das Leben einer Gruppe von Frauen und Sapphistinnen (die man heute allgemeinhin queere bzw. lesbische Frauen nennen würde) zur Jahrhundertwende, die von Mann zu Mann, vom Vater zum Ehemann, wie Kurzwaren ausgetauscht werden und „die nicht von Männerfüßen zertrampelt werden wollen“ und ihre Freiheit in der Welt suchen. Diese finden sie im berühmtberüchtigten Pariser Salon von Natalie Barney und in den Versen von Sapphos Gedichten.

Das Palimpsest: ein antikes Schriftstück, dessen ursprünglicher Text abgeschabt wurde, der unter dem neuen Text aber immer noch zu erkennen ist. Das Palimpsest: das Bild für Intertextualität, die Vorstellung von einem Text als ein Gewebe von Zitaten, wie es beispielsweise Roland Barthes beschrieben hat. Es ist offensichtlich, dass Selby Wynn Schwartz – eine promovierte Komparatistin – spielerisch und lustvoll so manches Themengebiet der Komparatistik in den Text einfließen lässt. Auf der Metaebene verhandelt ‚Wir waren Sappho‘ die Gattungsfrage, schimpft sich der Text doch Roman, vereint jedoch das epische Erzählen mit der Lyrik und dem Sachtext. Auf der Textebene widmet sich der Text der Übersetzung und der Intertextualität – und zeigt am Leben dieser Frauen, dass es sich dabei um mehr als bloße theoretische Spielereien handelt, dass sie sogar überlebensnotwendige Praktiken sind, die Leben miteinander verknüpfen und ein Erinnern und somit auch ein Wiedererkennen des Selbst ermöglichen.

Das, was Schwartz als eine mögliche Beziehung zwischen zwei Subjekten den Genitiv des Erinnerns nennt, so scheint es mir, findet Ausdruck in der Intertextualität. So zitiert ‚Wir waren Sappho‘ beispielsweise indirekt und direkt Virginia Woolfs ‚Orlando‘, ist der Text doch auch unter anderem eine fiktive Biografie. Neben den offensichtlichen Zitaten von Sapphos Fragmenten, finden sich auch weitere (teilweise unmarkierte) Zitate verschiedenster Werke. Vor allem fließt aber das künstlerische Schaffen der einzelnen Protagonistinnen als ein Gewebe von Zitaten ineinander über, indem sie beispielsweise die Texte der anderen lesen, füreinander Portrait stehen oder ihre schauspielerischen Leistungen auf der Theaterbühne bewundern: die einzelnen Erinnerungen mögen fragmentarisch sein, doch im vielstimmigen Chor dieser Frauen entsteht zumindest eine Art Mosaik. Und selbst auf räumlicher Ebene scheint der Roman Intertextualität zu thematisieren: So tragen die vignettenhaften Abschnitte im Text als Überschrift in der Regel den Namen einer Frau (aber nicht nur), die den Text thematisch abstecken, also einen klar definierten Raum schaffen. Durch das ständige Zitieren, sich aufeinander beziehen, das Übersetzen und das Erinnern öffnen sich allerdings Türen und Fenster, neue (Möglichkeits)räume entstehen, „dass unter einem Dach zwei Künstlerinnen lebten, die in Zimmern für sich allein arbeiten wollten.“  Intertextualität erhält hier, und dass nicht nur weil mensch diese Form der Inspiration mit dem Akt des Befruchtens beschreiben könnte, eine äußerst sinnliche Note.

Der Roman wurde unter anderem dafür kritisiert, einen Kreis größtenteils privilegierter Frauen in den Vordergrund zu stellen, die bereits einen festen Platz in der lesbischen Geschichte haben und deren Leben bereits ausreichend erzählt wurden. Doch wer, außer ein paar Eingeweihten, erinnert sich neben Virginia Woolf und Vita Sackville-West noch an Renée Vivienne oder Lina Poletti? Lesbische Kultur ist Mitte und Rand zugleich und kann nicht oft genug neu erzählt werden, weil sie immer wieder aktiv aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt zu werden droht.

Sappho zu lesen und Sappho zu werden, bedeutet für viele der Frauen eine Hinwendung zur Vergangenheit. Ist das gleichbedeutend mit einem Verharren in der Vergangenheit? Oder kann dieser Akt auch wegweisend für die Zukunft sein? ‚Wir waren Sappho‘ von Selby Wynn Schwartz ist ein Roman über das Erinnern, das in seinem Kern immer nur fragmentarisch sein kann, etwas, was der Text bis in letzter Konsequenz zum Ausdruck bringt. Wir Lesende müssen uns stets neu erinnern. Und dabei hilft uns Selby Wynn Schwartz‘ ‚Wir waren Sappho‘ auf eine Art, die verspielt, lustvoll, widerspenstig und wie die Frauen, von denen der Text erzählt, ganz und gar nicht fügsam ist.

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