Betrachten wir heutige Inszenierungen queerer Männlichkeiten und queeren männlichen Begehrens, blicken wir unweigerlich auch in die Vergangenheit. Denn unter diesen Inszenierungen verborgen liegen vergangene Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität und auch Inszenierungsstrategien männlichen queeren Begehrens. In ‚Queere Männlichkeiten: Bilderwelten männlich-männlichen Begehrens und queerer Geschlechtlichkeit‘ untersucht der Kunsthistoriker Nicholas Maniu, wie sich queere Ikonographien durch die Zeit hinweg verändert haben und sich einem Palimpsest gleich überlagern.
Manius Analyse erstreckt sich von den Ikonen der Antike wie Narziss und Ganymed, über die christlich geprägten Motive des Mittelalters wie die amicitia (bspw. David und Jonathan) und den hl. Sebastian, bis hin zu neuzeitlichen Motiven wie der Mode (darunter fallen Figuren wie Macaronis, Dandys, gay machos, Tunten, Mollies und Drag Queens) und sogar ephemeren und konkreten Architekturen. Ausgehend vom vorherrschenden Geschlecht- und Sexualitätskonzept analysiert er medial unterschiedliche Kunstwerke und auch ihre spätere Rezeption.
Die (Selbst-)Inszenierungen bewegen sich in einem Spannungsverhältnis von Fremd- und Selbstwahrnehmung, so Maniu. Eine der wichtigsten Strategien zur Darstellung von queerer bzw. devianter Männlichkeit und männlich-männlichen Begehrens ist deswegen die Appropriation. Darunter fällt auch die Vereinnahmung des heiligen Sebastians, einem christlichen Märtyrer, der heutzutage (zumindest inoffiziell) als Schutzheiliger der Schwulen gilt und der in den Arbeiten von Autoren und Künstlern wie Yukio Mishima und David Wojnarowicz referenziert wurde – allerdings unter denkbar unterschiedlichen Voraussetzungen. Während der eine die Ikone als „künstlerische Identifikationsfigur“ benutzt, prangert der andere mit seiner Rezeption die queerfeindliche Politik der US-Regierung während der AIDS-Epidemie an.
Deutlich wird hier aber auch eine der wichtigsten Beobachtungen des Textes, der „queere Bilder und Motive als visuelle Palimpseste [begreift], in denen sich eine zwischen Oppression und Emanzipation oszillierende Diskursgeschichte widerspiegelt.“ Inszenierungen queerer Männlichkeit und männlich-männlichen Begehrens gleichen demzufolge einem Schichtungsprozess, bei dem sich Bedeutungen verschieben, zwischen historischen Vorgängern finden sich allerdings „immer wieder Querverbindungen und Kongruenzen, die sich auch auf die Konstitution ›homosexueller‹ bzw. queerer Identitäten auswirken.“
Es ist eine komplexe Geschichte, die hier erzählt wird – wie die Geschichte der Homosexualität bzw. des männlich-männlichen Begehrens, welche diese unweigerlich gleich mitzeichnet. Von der Fokussierung auf einzelne sexuelle Handlungen bis hin zur sexuellen Identität, die aber auch mit der Pathologisierung und Kriminalisierung einhergeht, ist es eine Geschichte, die von Ambivalenzen, Widersprüche und Gleichzeitigkeiten geprägt ist. Diese Komplexität ist selbstverständlich dem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet, den eine Arbeit wie ‚Queere Männlichkeiten‘ erfüllen muss. Trotzdem lohnt es sich, diesen Aspekt hervorzuheben. Denn Arbeitstexte wie der vorliegende ermöglichen ein ganz neues Lesen und Interpretieren und, so großspurig das auch klingen mag, auch ein Lesen und Interpretieren der Welt.
Natürlich hat die Analyse in ‚Queere Männlichkeiten‘ auch einen emanzipatorischen Anspruch, den sie selbstverständlich auch erfüllt. Doch nimmt Maniu seine Leser*innen ganz nebenbei auch an die Hand und führt sie ähnlich einem Museumsführer durch eine aufwendig kuratierte Ausstellung, lenkt dabei ihre Schritte sicher durch die Epochen und ihre Blicke auf interessante und leicht zu übersehende Details der einzelnen Ausstellungsexponate. Das ist emanzipatorisch, aber auch informativ, spannend und glücklicherweise der Thematik entsprechend nie einfach, dafür aber stets komplex, widersprüchlich und voller Ambivalenzen.