Kim de l’Horizon – Blutbuch

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Dieses Buch ist eine Spirale. Blutbuch von Kim de l’Horizon kreist um die Leerstellen der Sprache und der Identität, in dem Wissen, dass nur eine Annäherung aber kein Ankommen möglich ist. Doch das Kreisen ist eine Bewegung nach innen und nach außen, oder auch ein Strudel, der die verschiedensten Themen gegen die im Zentrum stehende Frage – „Wo sind die meinigen?“ – schwemmt: Herkunft, Klasse und Armut, Geschlecht und Körperlichkeit und vor allem die sprachliche Bedingtheit unserer Realität.

Blutbuch von Kim de l’Horizon wird von einer nonbinären Figur erzählt, deren Großmutter – die Grossmeer – an Demenz erkrankt. Die Krankheit ist Ausgangspunkt zur Reflexion über die Vergangenheit und die eigene Kindheit, zu der dieses schreibende Ich keinen Zugang findet – so viel zur Handlung. Denn diese zusammenzufassen, würde bedeuten, das Buch in ein Korsett zu zwingen, welches es eigentlich sprengen will. Blutbuch ist weder an Einheit noch an Reinheit interessiert. Nicht bezüglich der Form, des Stils, der Themen oder der Handlung. Der Text ist mal poetische Reflexion, mal Popliteratur, mal die sachbuchartige Niederschrift einer weiblichen Blutlinie. Blutbuch pfeift auf Gattungen; Blutbuch ist – wie es so schön selbst reflektiert – ein Antiroman.

Dieses Schreiben ist als der Versuch zu verstehen, eine eigene Sprache zu finden, ein Schreiben, das zwangsweise bruchstückhaft bleiben muss und aus dem sich kein einheitliches Narrativ formen lässt: „In der Sprache, die ich von dir geerbt habe, in meiner Meersprache also, gibt es nur zwei Möglichkeiten, ein Körper zu sein. Das Aufwachsen im Gaumen der deutschen Sprache zwang mich stets in diese Kindergartenzweierreihe hinein.“

Das Aufbrechen einer binären Sprache, die nur zwei Geschlechter kennt, bedeutet in gewisser Weise, auch den eigenen Körper aufzubrechen. Kim de l’Horizon zeigt, wie Sprache unsere Körper formt, ohne dass wir deswegen ihre handlungsunfähigen Opfer sein müssen. Denn das dagegen Anschreiben ist auch eine Form der Selbstermächtigung. Auch deswegen ist der Text autofiktional angelegt, auch deswegen ist Autofiktion immer irgendwie queer: Autofiktion erzählt, was keinerlei Vorbilder in der Literatur hat. Dass Blutbuch seine eigene Autofiktionalität reflektiert, ist aber auch Beweis dafür, dass unsere Biographien immer in irgendeiner Form konstruiert sind, dass sie Geschichten sind, die wir uns erzählen, um uns unserer Identität zu bestätigen. Nur dass diese offenbar nicht so gefestigt sind, wie wir das gerne glauben wollen.

Vermutlich eignet sich das Bild der Osmose am ehesten, um Blutbuch auf den verschiedenen Ebenen irgendwie zu fassen zu bekommen. Denn der gebrochene Körper der Erzählfigur, die das Ende ihres Körpers nicht kennt und die Welt ein- uns auslässt, ist eine Fortsetzung, ein Spross der Blutbuche im Garten der Eltern: das Trauma der Vorfahr*innen ist auch das eigene Trauma. Die bittere Armut und der Hunger der Grossmeer, die Wut der Meer, die, weil sie eine Frau ist, nicht das Gymnasium besuchen durfte und sich nun als Archiv für all die Frauen versteht, die Gewalt erfahren haben, ihre Geschichten und Gefühle gesammelt hat – all das trägt die Erzählfigur weiter in sich. Daran haben weder der geographische Wechsel vom Dorf in die Großstadt Zürich etwas geändert noch der Klassenwechsel. Die Vergangenheit sind der Erzählfigur in den Körper eingeschrieben, Blutbuch ist der Versuch, sich davon freizuschreiben.

Kim de l’Horizons Blutbuch hat den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung gewonnen und ist sowohl für den Deutschen als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zurecht! wie dieser Rezensent meint. Kim de l’Horizon hat eine eigene queere Ästhetik entwickelt, um mit dem Schweigen zu brechen, hat etwas zu sagen und ganz nebenbei ein Buch geschrieben, das von Anfang bis Ende einen wilden Ritt verspricht. Und – wenn man denn so will – geht man aus dieser Lektüre als jemensch hervor, der*die sich selbst und die Welt ein bisschen besser versteht.

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