4. Herausforderungen beim Kanonisierungsprozess von schwuler Literatur – 4.1 Zensur von schwuler Literatur

Zensur von schwuler Literatur

4.1.1 Selbstzensur

Für die Bildung eines Kanons spielen sowohl ökonomische als auch sozialkulturelle Bedingungen eine entscheidende Rolle, die sich auch gegenseitig bedingen.[1] Führen also sozialkulturelle Rahmenbedingungen wie Diskriminierung gegen eine bestimmte Gruppe zu einer Zensur in Form eines Publikationsverbotes von Texten, die eine entsprechende Thematik behandeln, können diese konsequenterweise nicht käuflich erworben werden. Wie bereits beschrieben, entscheiden Buchkäufe mitunter darüber, was von einer Gesellschaft gelesen werden soll und ob ein Werk kanonisiert wird. Die Diskriminierung gegen Homosexuelle hat eine lange Geschichte und ebenso die der Zensur von Texten, die sich mit dem Thema der Homosexualität befassen. Die Zensur – welche verschiedene Formen annehmen kann – erschwert das Kanonisieren schwuler Literatur ungemein.

Spätestens mit dem raschen Wachstum des Christentums – eine Religion, welche der Homosexualität im Allgemeinen ablehnend gegenübersteht –  im vierten Jahrhundert sahen sich Männer mit homoerotischen Empfindungen, die über eben jene geschrieben haben, der Zensur ausgesetzt.[2] Zuerst von der Kirche und später auch von der jeweiligen Regierung durchgesetzt, sahen sich Schriftsteller damit konfrontiert, dass Herausgeber, Druckereien und Buchhandlungen sich weigerten, sich dieser Werke anzunehmen.[3] Wie in fast allen Fällen von Zensur haben Schriftsteller einen Weg gefunden, um diese zu umgehen. An erster Stelle steht hier wohl die Selbstzensur.

Das Spiel mit der Maskerade, hinter der man sich und sein homoerotisches Begehren verbergen konnte, beherrschten schon die Mönche des Mittelalters. Sie beschrieben in ihren Gedichten die Jünglinge, denen ihre Zuneigung galt, wie Frauen, oft in einer Form, die bereits wieder den heteronormativen Gewohnheiten entsprach.[4] Weitere Formen der Maskerade sind beispielsweise die Du-Anrede in Gedichten oder das berühmte Beispiel Marcel Proust: In seinem autobiographisch geprägten Werk À la recherche du temps perdu hat er sich selbst als heterosexuell dargestellt und aus den Männern in seinem Leben im Roman Frauen gemacht.[5] Die Frage, die sich stellt, ist, wieso homosexuelle Leser, die das Bedürfnis empfinden, schwule Literatur zu rezipieren, sich mit einer Literatur auseinandersetzen sollen, welche – bezogen auf das homoerotische Begehren – nicht ihre Lebensrealität widerspiegelt. Eine Literatur, welche all den Normen entspricht, welche sie und ihr Begehren vom Rest der Gesellschaft ausschließen, kann konsequenterweise keinen stabilisierenden Einfluss auf das Gefühl einer kollektiven Identität und Geschichte nehmen. Um das Spiel mit der Maskerade zu verstehen, benötigen Leser ein Spezialwissen, welches über den Text an sich hinausgeht. Über dieses Wissen verfügen viele Leser jedoch nicht. So mag die Maskerade es den Schriftstellern ermöglicht haben, der Zensur zu entgehen, für zeitgenössische Leser ist es jedoch oft schwer – wenn nicht gar unmöglich – diese Signale zu erkennen und die Literatur als schwule Literatur zu rezipieren. Der Kanonisierungsprozess ist hier also abhängig von einer Elite an gebildeten Lesern mit dem entsprechenden Wissen, nicht von der gesamten Subkultur.

Selbstzensur war jedoch nicht nur ein Thema, welches Schriftsteller betraf, sondern auch Literaturkritiker beziehungsweise Literaturwissenschaftler. Francis Otto Matthiessen, selbst homosexuell, veröffentlichte 1942 The American Renaissance: Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman, ein Werk, in welchem er sich ausführlich mit Whitmanns Sprache und den Einflüssen auf sein Werk wie der Oper und der Malerei beschäftigt.[6] Um eine kritische Ausgabe über Whitmans Werk in den Vereinigten Staaten der 1940er Jahre veröffentlichen zu können, mussten Hinweise Whitmans homoerotisches Begehren verstreut oder in den Fußnoten versteckt werden.[7] Die gesellschaftlichen und beruflichen Konsequenzen wären für den Literaturwissenschaftler wahrscheinlich zu groß gewesen, als dass er sich eine offene Auseinandersetzung mit der Thematik zugetraut hätte.

Ironischerweise haben viele (vermeintlich heterosexuelle) Kritiker den einsetzenden offenen Umgang mit der Thematik im 20. Jahrhundert als Nachteil für die schwule Literatur bezeichnet. Dabei steht die Frage im Raum, was schwule Literatur ohne Unterdrückung wäre.[8] So schätzen viele Kritiker, die Tendenz, das Thema offen zu besprechen, als einen Sturz ins Pornographische ein, eine Literatur also, die sich mit den körperlichen Empfindungen ihrer Figuren und nicht mit ihrem Verstand beschäftigt.[9] Jeffrey Meyers fasst die Situation so zusammen: „The emancipation of the homosexual has led, paradoxically, to the decline of his art.“[10]

In der Gegenwart nimmt die Selbstzensur homosexueller Schriftsteller eine neue Form an, diese ist jedoch nicht weniger politisch. Wie bereits deutlich wurde, geht es dabei um die Darstellung homosexueller Lebensrealitäten. Tragische Enden in einem Roman werden so gedeutet, dass ihr Verfasser sich selbst hasst. Die Geschichten haben plausibel, heroisch und optimistisch zu sein, ein Konzept wie man es bereits aus dem Sozialistischen Realismus kennt.[11] Schriftsteller wie Colm Tóibín wiederum kritisieren den Klassiker Maurice von E.M. Forster dafür, ein Ende verfasst zu haben, welches ohne Selbstmord, Exil oder eine Verhaftung auskommt und welches zeigt, wie zwei Männer glücklich miteinander sind: „It would be heartening and hopeful, and politcally correct, but it would not fulfill another truth which has nothing to do with hope or politics.“[12] Wahrheit ist hier auf die gesellschaftlichen und auch gesetzlichen Rahmenbedingungen zu beziehen, die es homosexuellen Männern erschwert haben, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Es mag stimmen, dass viele Beziehungen von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren und viele homosexuelle Männer in ihrem Leben ein tragisches Ende gefunden haben, aber es wäre vereinfacht zu behaupten, dass diese Wahrheit auf alle homosexuellen Männer aus dieser Zeit zutrifft. Außerdem bricht auch Tóibín das komplexe Verhältnis zwischen Realität und Fiktion auf eine simple Formel herunter, der zufolge Fiktion den Ist-Zustand unserer Welt beschreiben soll.

Der schwule Kanon will vor allem aus dem Mainstream Kanon bisher ausgeschlossene Werke sichtbar machen.[13] Dieses Sichtbarmachen wird dadurch erschwert, dass sich Autoren der Vergangenheit hinter Masken versteckt haben und diese nicht immer als solche zu erkennen sind. In der Gegenwart ist aber auch der ideologische und politische Konflikt der Akteure und Rezipienten der schwulen Literatur, der in eine neue Form der Selbstzensur zu münden droht, ein entscheidendes Kriterium für beziehungsweise gegen die Aufnahme eines Werkes in den schwulen Kanon.

4.1.2 Zensur in der Öffentlichkeit, der Literaturkritik, den Literaturwissenschaften und durch Literaturproduzenten

Die Darstellung der Homosexualität beziehungsweise des homoerotischen Begehrens hat eine lange Tradition innerhalb der Literaturgeschichte. Mindestens genauso lang sind die Versuche, diese Darstellungen zu zensieren. Bereits 521 vor Christus mussten die Dichter Ilbycus und Anareon aufgrund der Thematik ihrer Texte vor den Persern flüchten.[14] Unter der Diktatur der Nazis wurden „gleichgeschlechtlich veranlagte Männer zu Staatsfeinden erklärt“ und Heinrich Himmler befahl „ihre Einweisung in Konzentrationslager und ihre Ermordung.“[15] So ist es wenig verwunderlich, dass Die Freundesliebe in der deutschen Literatur, „[d]as erste Buch, das den Namen einer Spezial- oder Toposgeschichte der mann-männlichen Liebe in der Literatur verdient [hat]“[16], ein Opfer der Bücherverbrennung wurde. Aber auch außerhalb von Diktaturen kam es durchweg zur Zensur, oftmals in einer sehr viel subtileren Form. Auf Seiten der Akteure im Literaturbetrieb und der Rezipienten in der Literaturwissenschaft und der Literaturkritik.

In der französischen Zeitung Les Marges stellt die Redaktion seinen Lesern 1926 die Frage, wie mit der Homosexualisierung der Literatur umgegangen werden soll.[17] Ausgerechnet auf die Kunstfreiheit beruft man sich, um zu argumentieren, dass die Darstellung in der Literatur solange in Ordnung bliebe, solange sie „als Laster gekennzeichnet bliebe“[18]. Positive Darstellungen, also solche „zu Werbezwecken“ sind „durch Verschweigen, durch Nichtberücksichtigung in der Literaturkritik, durch Warten darauf, daß die Mode abebbt“ zu zensieren.[19] Tatsächlich wurden von der französischen Regierung offizielle Maßnahmen ergriffen, welche dazu führten, dass erste Zeitschriften, die sich mit schwuler Literatur beschäftigten, eingestellt werden mussten.[20] Diese Form der Zensur hat auch darüber hinaus weitreichende Konsequenzen in Form des Vergessens – auch innerhalb der schwulen Subkultur. So wird oft übersehen, dass nicht erst seit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und der Stonwall Revolte in den USA, es emanzipatorische Versuche der Schwulenbewegung gegeben hat.[21] Diese haben jedoch nicht zu einem Ende der Zensur geführt: Das 1970 erschienene Werk Eden, Eden, Eden von Pierre Guyotat wurde in Frankreich trotz Protestbekundungen von Roland Barthes, Jean Genet, Michel Foucault und Jaques Derrida elf Jahre in Frankreich zensiert.[22] Zensur fand in Frankreich aber auch durchaus in Form von Übersetzungen amerikanischer Romane durch die Publikationshäuser statt. So wurde die spezifische Sprache des Textes, welche als Signal für die Zugehörigkeit der schwulen Subkultur diente, abgeschwächt.[23] Auch in diesem Fall ging es um Universalität, die der französischen Identität, kurz: In Frankreich ist man erster Stelle Franzose, nicht schwul.[24]

Das Thema Homosexualität war auch in der Literaturwissenschaft lange mit „einem Tabu belegt“[25]. So wurden auch bei Vertreten der Weltliteratur Motive, Fragestellungen und gar ganze Werke in der Forschung schlichtweg ignoriert.[26] Stellenweise wird dann zwar seitens der Literaturwissenschaft die Homosexualität eines Autors widerwillig akzeptiert, aber für sein Werk als nebensächlich eingestuft, das heißt als etwas, was es sich nicht zu erforschen lohnt. Als „Jaja, er war schwul, aber das spielt doch keine Rolle!“ fassen die beiden Literaturwissenschaftler Dirk Naguschewski und Sabine Schrader dieses Phänomen phrasenhaft zusammen.[27] Ziel ist es nicht, homosexuelle Schriftsteller auf ihre Sexualität zu reduzieren, gleichzeitig ist es aber auch leichtsinnig „jegliche Form von Wirkkraft komplett zu verneinen“[28], welche die Sexualität des Schriftstellers auf den Text haben kann. Diese Form der Zensur erschwert es, einen besonderen Aspekt „in der Produktion und Rezeption“[29] zu untersuchen und dementsprechend auch in der Öffentlichkeit wahrzunehmen.

In der 1999 erschienenen Proust Biographie von Edmund White aus der Lives-Serie, die sich hauptsächlich auf dessen Homosexualität konzentriert, berichtet ihr Verfasser von seinen Leseeindrücken anderer Biographien und wie diese mit Marcel Prousts Homosexualität umgegangen sind. So beschreibt er die Einstellung des Biographen George D. Painter als „rather mawkish and judgmental“[30], weil dieser an Prousts weiblicher Jugendliebe erkennen will, dass Zeit seines Lebens ein heterosexueller Junge in ihm vergraben war, der dem verlorenen Mädchen seiner Jugend hinterherweinte. Dem begegnet White augenzwinkernd: „I would suggest that Proust’s exclusively homosexual sexual experience might suggest that the only little girl he was crying over was inside him.“[31] Knapp 20 Jahre später berichtet White von der Rezeption seiner Biographie: „I was in fact critizised in print for calling Proust queer, the idea being that such a universal author couldn’t possibily be homosexual, and anyway he was just a mastubator, according to one expert.“[32] Populäre Ausgaben der Werke von Rimbaud und Auden wiederum sparen die offensichtlich homoerotischen Gedichte aus.[33] In all diesen Fällen geht es darum, dass vermeintlich Universelle der betreffenden Autoren zu bewahren und sie vor der schändlichen Zuschreibung des Homosexuellen zu bewahren.[34]

Die Zensur der schwulen Literatur ist vielfältig: Ob durch Verschweigen, gesellschaftliche Ächtung, Verbote oder auch Änderungen in den Übersetzungen schwule Literatur war in der Vergangenheit nur schwer bis gar nicht zugänglich und es war eine Herausforderung, sie als solche zu rezipieren. Zwar hat sich spätestens seit den späten 1960er mit den Stonewall-Aufständen in den USA und den Studentenprotesten in Europa gesellschaftlich viel getan, allerdings muss auch darauf hingewiesen, dass die schwule Literatur etwas mehr als 50 Jahre Zeit hatte, um mit der Forschung der restlichen Literatur der Mitte aufzuholen. Dennoch gibt es auch in der westlichen Gesellschaft immer wieder Versuche, schwule Literatur zu zensieren. Bücher mit homosexuellem Inhalt sind auch in der Gegenwart oft umstritten: Die American Library Association berichtete noch 2006, dass diese Werke „[a]mong the ten most challenged books“[35] sind und ihnen vorgeworfen wird pornographisch und obszön zu sein. In anderen Teilen der Welt zeichnet sich in dieser Hinsicht ein um einiges düsteres Bild ab.

4.1.3 Zensur schwuler Literatur in Russland:  Ein kurzer Überblick

Die Zensur schwuler Literatur in Russland hat eine lange Geschichte, ist vielfältig – und andauernd. Aus diesem Grund wird dem Land beispielhaft für Länder jenseits der westlichen Konventionen ein eigenes Kapitel gewidmet.

Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein fand das Thema Sexualität keinerlei Ausdruck bei der schreibenden Elite in Russland, die Homosexualität miteingeschlossen, während die mündliche Tradition des Volkes alles andere als zurückhaltend bei dem Thema war.[36] Wo also andere homosexuelle Schriftsteller mit Maskeraden gearbeitet haben, waren russische schwule Schriftsteller mit Schweigen konfrontiert. Dieses Schweigen wurde auch später durch das sowjetische Regime durchgesetzt, als Stalin Ende der 1920er Jahre die Macht ergreift und 1934 Homosexualität verbietet.[37] Denn nach der Russischen Revolution 1905 öffnete sich der öffentliche Diskurs gegenüber bisherigen Tabuthemen, so dass beispielsweise der Roman Flügel von Michail Kusmin erscheinen konnte, während sich auch kanonische Autoren wie Alexander Sergejewitsch Puschkin sich amüsiert bis tolerant in ihren Texten über Homosexualität äußerten und in ihren Texten mit der Tradition der griechischen Antike spielten.[38] Unter Stalins Diktatur wurden diese Fortschritte jedoch innerhalb kürzester Zeit rückgängig gemacht. Die Klassiker der griechischen Antike werden zwar weiterhin veröffentlicht, jedoch in zensierter Form: Referenzen zu Homosexualität werden entweder geändert oder schlichtweg ausgelassen.[39] Schwule Literatur, Forschung Berichterstattung in den Nachrichten darüber sind von diesem Zeitpunkt an verboten.[40] Viele der homosexuellen Schriftsteller emigrieren darauf ins Ausland, während der Übersetzer Ivan Likhachev verhaftet und ins Gulag geschickt wird.[41] Es handelt sich bei ihm nur um ein Schicksal von vielen.

Mit dem Ende der Sowjetunion ändert sich die Lage langsam. Archive werden geöffnet und die Veröffentlichung von Literatur wird dezentralisiert.[42] Archivarbeit wird aber auch dadurch erschwert, dass Literaturwissenschaftler den eigentlichen Grund ihrer Recherche verbergen müssen, um Zugang zum Material zu erhalten.[43] Allerdings ändert das nur wenig an der gesellschaftlichen Situation und Akzeptanz. Noch immer herrscht die Annahme vor, dass es sich bei Homosexualität um einen Import des Westens handeln würde, so dass auch russische Literaturwissenschaftler weiterhin bestreiten, es könne so etwas wie russische schwule Literatur geben.[44] Entsprechend schwer ist es für homosexuelle russische Schriftsteller, sich als solche zu identifizieren und als solche ihre Texte zu verfassen.[45]

Ein weiterer Rückschlag ist das Gesetz, welches 2013 vom amtierenden Präsidenten Vladimir Putin erlassen wurde, welches sogenannte „homosexuelle Propaganda“ verbietet, wodurch das Thema Homosexualität einmal mehr aus der öffentlichen Debatte zu verschwinden droht – und damit auch aus der Literatur.[46] Paradoxerweise ist Oscar Wilde in Russland weiterhin einer der meist übersetzten Schriftsteller, wodurch der Eindruck entstehen könnte, dass die Liberalisierung der Gesellschaft und des Landes trotz des Propaganda-Gesetzes fortschreitet.[47] Allerdings eröffnet sich ein anderes Bild, wenn man darauf achtet, wie Oscar Wilde der russischen Leserschaft verkauft wird.

Zum einem wird Oscar Wilde in Russland als Kinderbuchautor vermarktet, was nicht nur seine Märchen betrifft, sondern auch Texte wie The Picture of Dorian Grey.[48] Damit bietet das Werk, „deeply encoded with references to his homosexuality […] in which every plotline leads to death“[49], einen didaktischen Aspekt. Auch dass Wilde zum Stilisten erklärt wird, soll verhindern, dass dem Thema der Homosexualität in seinen Texten Aufmerksamkeit geschenkt wird, denn als solcher wird Wilde als jemand dargestellt, dessen Stil wichtiger als alles andere ist, inklusive der Bedeutung seiner Texte – das sind Zensurmethoden, die bereits in der Sowjetunion angewendet wurden.[50] Dieses Argument wurde so weit getrieben, dass eindeutig homoerotische Stellen in seinem Werk so interpretiert wurden, dass Wilde als Teil eines Schönheitskults, sich – wie von den Griechen bekannt –der göttlichen Schönheit durch die menschliche nähern wollte.[51] In der Sekundärliteratur wird das Thema schlichtweg verschwiegen oder als Laster umschrieben.[52] Auch die sogenannte „Russification“ ist eine weitere Methode, die Autoren wie Oscar Wilde einen Teil ihrer Identität beraubt. Am Beispiel von De Profundis wollen russische Literaturwissenschaftler erkennen, dass Wildes Narzissmus, sein Laster während seiner Zeit im Gefängnis durch sein Leid geheilt wurden und er Erlösung gefunden hat.[53] Dabei handelt es sich um Eigenschaften, die ein russischer Rezipient nicht nur akzeptieren, sondern auch schätzen kann.

Trotz der Gesetzeslage gibt es natürlich so etwas wie eine russische schwule Literatur – wenn auch nicht bei den großen Publikationsverlagen. Der Schriftsteller Aleksandr Schatalov führt den Glagol Verlag und veröffentlicht das monatliche Magazin Kvir (Queer), um jungen queeren Schriftstellern ein Publikum zu bieten.[54] Und auch wenn Baers Einschätzung, dass „[d]espite the general homophobia, gay and lesbian literature in today’s Russia is alive and well“[55] ein wohlverdientes Lob für die russischen Schriftsteller und Aktivisten ist, muss doch auch darauf hingewiesen werden, unter welchen prekären Umständen, sie ihre Literatur veröffentlichen müssen, und dass die komplexe Verbindung zwischen Zensur und Veröffentlichungen im kleinen Rahmen, es äußerst schwer machen, den Texten eine große Leserschaft vorzustellen. Die Entwicklung hin zu einer kollektiven schwulen Identität innerhalb von Russland steht so vor einer harten Zerreißprobe. Noch komplexer wird die Situation, wenn der Blick auf eine transnationale Perspektive gerichtet wird.


[1] Vgl. Starre, Alexander: Kontextbezogene Modelle. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.58.

[2] Vgl. Dynes, Wayne R.; Donaldson, Stephen. Introduction. In: Homosexual Themes in Literary Studies. 1992. S.viii.

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. Stehling, Thomas: To Love a Medieval Boy. In: Essays on Gay Literature. 1985. S.156f.

[5] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.53.

[6] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.11.

[7] Vgl. Ebd. S.12.

[8] Vgl. Woods, Gregory: Articulate Flesh. Male Homo-Eroticism and Modern Poetry. New Haven, Yale University Press, 1987. S.2.

[9] Vgl. Ebd. S.2f.

[10] Vgl. Meyers, Jeffrey: Homosexuality and Literature. 1890-1930. London: Athlone Press, 1977. S.3.

[11] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.226.

[12] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.26.

[13] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Zentrum und Peripherie. In: Handbuch Kanon und Wertung.  2013. S.110.

[14] Vgl. Dynes, Wayne R.; Donaldson, Stephen. Introduction. In: Homosexual Themes in Literary Studies. 1992. S.ix.

[15] Vgl. Maiwald, Stefan; Mischler, Gerd: Sexualität unter dem Hakenkreuz. Manipulation und Vernichtung der Intimsphäre im NS-Staat. München: Ullstein, 2002. S.167.

[16] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.6.

[17] Vgl. Naguschewski, Dirk u. Schrader, Sabine: Homosexualität. In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.14.

[18] Vgl. Ebd. S.14f.

[19] Vgl. Ebd. S.15.

[20] Vgl. Ebd. S.16.

[21] Vgl. Ebd.

[22] Vgl. White, Edmund: The Unpunished Vice. A Life of Reading. London: Bloomusbury, 2018. S.163f.

[23] Vgl. Baer, Brian James: Translation and the Making of Modern Russian Literature. New York: Bloomsbury, 2016. S.136.

[24] Vgl. Ebd.

[25] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.6.

[26] Vgl. Busch, Alexandra u. Linck, Dirck: Vorwort. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.V.

[27] Vgl. Naguschewski, Dirk u. Schrader, Sabine: Homosexualität. In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.9.

[28] Vgl. Ebd.

[29] Vgl. Ebd.

[30] Vgl. White, Edmund: Proust. London: Weinfeld & Nilson, 1999. S.145.

[31] Vgl. Ebd.

[32] White, Edmund: The Unpunished Vice. 2018. S.166.

[33] Vgl. Lilly, Mark: Gay Men’s Literature in the Twentieth Century. 1993. S.1.

[34] Vgl. Ebd. S.3.

[35] vgl. Bosman, Ellen u. Bradford, John P.: Gay, Lesbian, Bisexual, and Transgendered Literature. 2008. S.26.

[36] vgl. Baer, Brian James: Russian Gay and Lesbian Literature. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. Hrsg. v. E.L. McCallum u. Mikko Tuhkanen. New York: Cambridge University Press, 2014. S.421.

[37] Vgl. Ebd. S.421f.

[38] Vgl. Ebd. S.423f.

[39] Vgl. Ebd. S.421f.

[40] Vgl. Ebd. S.432.

[41] Vgl. Ebd.

[42] Vgl. Ebd. S.421.

[43]  Vgl. Moss, Kevin: Editor’s Preface. In: Out of the Blue. 1997. S.9.

[44] Vgl. Baer, Brian James: Russian Gay and Lesbian Literature. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. 2014. S.421.

[45] Vgl. Ebd.

[46] Vgl. Baer, Brian James: Translation and the Making of Modern Russian Literature. 2016. S.137.

[47] Vgl. Ebd. S.139.

[48] Vgl. Ebd. S.140.

[49] Vgl. Ebd. S.141.

[50] Vgl. Ebd.

[51] Vgl. Ebd. S.145.

[52] Vgl. Ebd. S.146.

[53] Vgl. Ebd. S.149.

[54] Vgl. Baer, Brian James: Russian Gay and Lesbian Literature. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. 2014. S.436.

[55] Vgl. Ebd.

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