Jörg Rehmann – Herr Wunderwelt

Jörg Rehmann - Herr Wunderwelt

„Über den Osten wurde in demselben Ton gesprochen und geschrieben wie über die Altenpflege.“ Als Dirk Anfang 1989 nach Westberlin ausreist, hat er eigentlich Großes vor, er will Schkopau hinter sich lassen, jemand sein. Vielleicht Schriftsteller. Stattdessen landet er aber in der Seniorenresidenz in Grunewald. Und wird dort die nächsten 20 Jahre über bleiben. Die Reaktionen auf dieses Bekenntnis sind allerdings ernüchternd. Sie reichen von Mitleid bis hin zum Blick auf die Fingernägel, unter denen könnte sich ja Schmutz befinden. Also erfindet sich Dirk und sein Leben ganz einfach neu. Ein Buch wird er nie schreiben, aber Geschichten erzählen, das kann er.

In seinem Debütroman Herr Wunderwelt lässt Jörg Rehmann seinen Ich-Erzähler abwechselnd vom schwulen Berlin der 90er und der Kindheit in der DDR berichten. In Schkopau weist Dirk, auch als das rote Arschloch bekannt, seine Mitschüler*innen beim Fahnenappel zurecht und scheut sich auch nicht davor, einen Lehrer zurechtzuweisen. Mit den Unterrichtsmethoden den Sieg des Sozialismus in Gefahr zu bringen, das kann man nicht durchgehen lassen. Mit dieser Systemtreue punktet man sogar bei der Staatssicherheit. Dafür lässt man dann auch mal eine Freundin mit Westverwandtschaft sitzen, immerhin will man Karriere machen. Wäre da nicht das schwarze Unwort: schwul. Vielleicht war die Liebe für Eiskunstläuferin Katarina Witt ja ein erster Hinweis auf dieses kompromittierende Detail.

In Westberlin sieht es aber für Dirk nicht viel besser aus, er spielt immer nur eine Rolle. Im Drogenrausch macht er auf Psychologen, für ein WG-Zimmer mit Balkon geht er auch mit seinen links orientierten Mitbewohner*innen auf die Straße und grölt RAF-Parolen. Und wenn alle Stricke reißen, kann man sich auch als großes DDR-Opfer stilisieren, so etwas hört man in der BDR gerne. Zum Beispiel wenn er mit Napoleon Seyfarth, dem Autor von Schweine müssen nackt sein, eine Lesung hat und auf Schriftsteller macht. Dieser fiktionale Auftritt, des schändlicher Weise in Vergessenheit geratenen Autors, gehört zu den skurrilsten und auch komischsten Kapiteln des gesamten Romans.

Nein, keine Angst, Herr Wunderwelt ist kein DDR-Bashing. In der Tradition von Napoleon Seyfarth teilt der Erzähler in alle Richtungen aus, hier wird jeder einmal bloßgestellt, auch der Erzähler. Das ist bitterböse, lustig, immer menschlich und beste Unterhaltung.

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