Carolin Emcke – Wie wir begehren

Carolin Emcke - Wie wir begehren

Sie lebt, er stirbt, nimmt sich selbst das Leben. Ausgehend von einer Schuld, die keine ist, erzählt Carolin Emcke in Wie wir begehren über das Begehren und über die Kreise in unseren Leben, die uns ein- und ausgrenzen.

Kann Begehren, für das es keine Sprache gibt, gedacht und gefühlt werden? Carolin Emcke wird in den späten 70ern und frühen 80ern erwachsen. In der Schule ist die Sexualkunde zwar endlich säkularisiert, deswegen aber nicht weniger moralisierend. Das weitergegebene Wissen ist darauf ausgerichtet, die eigene Sexualität zu vermeiden. Was abseits der Norm ist, wird an den Rand getrieben, verschwiegen, ausgelöscht. Und so ist es dann ihr Mitschüler Daniel, der gewaltsam verschwindet, erst aus dem Blick der anderen, dann aus dem Leben.

In ihrer Jugend verliebt sich Carolin Emcke in Männer – und begehrt diese auch. Erst als sie mit Mitte 20 einer lesbischen Frau begegnet, ändert sich das. War dieses Begehren schon immer da und hat nur darauf gewartet, entfacht zu werden? Oder ist es neu, eine bewusste Entscheidung sogar? Anhand der Musik mit ihren Kompositionen, wiederkehrenden Motiven, Brüchen und Übergängen findet Emcke eine Sprache, die sie für ihre Erfahrungen anwenden kann.

Emcke ist lesbisch, aber sie entscheidet sich auch dazu, es zu sein. Ihre Kritik an der Vorstellung einer kollektiven Identität, die ihren Fokus auf den Ausdruck von gemeinsamen Erfahrungen und einer unabänderlichen – sprich: nicht heilbaren – Sexualität legt, verfolgt ein konkretes Ziel: das des individuellen Ausdrucks der Differenz. Die eigene Sexualität wird mehr als für einen selbst angenommen, sie ist gewollt, weil sie es ermöglicht, abseits der Normen, radikaler und zärtlicher zu lieben und zu begehren. Was nicht heißt, dass sich Emcke der Kraft dieser Zuschreibungen in Zeiten der politischen und gesellschaftlichen Unterdrückung nicht bewusst wäre.

Wie wir begehren richtet seinen Blick auch auf ferne Länder, in denen das Abweichen von der Norm noch immer eine Gefahr für das eigene Leben bedeuten kann, Differenz mitunter aber auch ganz anders wahrgenommen wird.

Wie wir begehren ist ein sehr persönlicher und individueller Bericht und hat gerade deswegen einen universellen Charakter. Es ist ein Spiegel, in dem wir und selbst betrachten und seltsam Vertrautes und Fremdes erkennen können.

P.S.: Jedes Mal, wenn jemand von dem Moment der Freiheit berichtet, einfach sein zu dürfen, regt sich eine Stimme in mir, die „Ja! Genau so war es!“ ruft. Egal, wie oft ich es gelesen habe und noch lesen werde. Und Carolin Emcke erzählt davon ganz wunderbar.

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