Andrew Sean Greer – Less

Ich bin ein Snob. Als ich irgendwann im März, das erste Mal von Andrew Sean Greers Roman Less erfuhr und mir eine Inhaltsangabe durchlas, war mein erster Gedanke ein abfälliger. Die Abenteuer von Arthur Less klangen nach seichter Lektüre. Auch als ich den Roman dann in einer Buchhandlung in den Händen hielt, wiederholten sich meine Gedanken und ich entschied mich dafür, es irgendwann, später, vielleicht, in einem Sommerloch oder sonst wann, zu lesen. Nun hat der Roman am 16. April 2018 den Pulitzer Preis für Belletristik gewonnen und mir wurde einmal mehr bewusst, wie elitär mein Verhältnis zur Literatur tatsächlich ist. Mein erster Gedanke war kein versöhnlicher über nichtssagende Inhaltsangaben. Vielleicht mehr fragte ich mich, ob endlich die Zeit gekommen ist, in der auch Schwule über alte, weiße (langweilige) Männer schreiben, die im Literaturbetrieb arbeiten und eine Midlife-Crisis haben. Tja, dürfen sie. Denn im Gegensatz zu der überwältigenden Flut an heterosexueller Literatur mit ähnlichem Inhalt kommt tatsächlich etwas Neues und Interessantes dabei heraus.

 Arthur Less, fast 50, fühlt sich, als wäre er der einzige alte schwule Mann auf dieser Welt. Seine Generation wurde fast vollständig von der AIDS Epidemie ausgelöscht. Sein neuster Roman, ein schwules Ulysses, wird von seinem Verlag abgelehnt. Zu düster und wer will schon ein Buch über die Leiden eines weißen Manns (selbst wenn er schwul ist) lesen, der im Grunde ein gutes Leben führt? Als sein Ex-Freund Freddy, der nie wirklich sein Freund war – denn wie soll man auch einen Mann nennen, mit dem man neun Jahre eine Art Beziehung führte, die aber eigentlich gar keine war, denn versprochen hat man sich nie etwas und weitere Männer gedatet hat man in der Zwischenzeit sowieso – einen anderen Mann heiratet, entscheidet sich Less, jede einzelne Einladungen zu jeder noch so dubiosen literarischen Veranstaltung anzunehmen und so beginnt eine Reise rund um die Welt.

Arthur Less ist ein umgekehrter Odysseus. Denn seine Odyssee rund um die Welt ist kein verzweifelter Versuch heimzukehren, sondern eine Flucht. Es sind auch keine zornigen Götter, die ihn verfolgen, sondern seine Erinnerungen. Die sind aber mindestens genauso furchterregend.

An der Oberfläche ist Less eine Komödie. Und sogar eine verdammt gute. Hier wird beim Lesen nicht kurz geschmunzelt, hier kann man beim Lesen dämlich und breit grinsen und laut lachen. Less ist glücklicherweise aber auch viel mehr als das. Arthur Less muss sich mit allen Dämonen herumschlagen, die ein alternder schwuler Mann mit sich herumschleppen kann. Und das liest man auch aus seinen Romanen heraus. Seine Geschichten bringen ihre Leser*innen zum Weinen und enden stets in einer Katastrophe. Und das ist auch der Grund, weshalb Arthur Less‘ Werke nicht im schwulen Kanon vertreten sind. „It’s not that you’re a bad writer.“, fasst einer seiner Autorenkollegen das Problem zusammen. „It’s that you’re a bad gay.“

Es ist ein aktueller Diskurs, dass schwule Literatur das Leid ihrer Protagonisten zu sehr in den Vordergrund stellt und mehr Happy Ends her müssen, um vor allem für die jüngere Generation neue Lebenswelten und Perspektiven zu entwerfen – was natürlich voraussetzt, dass Literatur das kann. Es mag stimmen, dass diese Geschichten, in die Falle einer alten Tradition tappt, laut der schwule Helden leiden (und am Ende sterben) müssen. Denn so entsteht schnell der Eindruck, dass Schwulsein moralisch verurteilt wird. Diese Kritiker vergessen aber oft, dass diese Romane durchaus reflektieren, dass ihre Helden an den gesellschaftlichen Umständen scheitern und dass ihre Autoren über individuelle Erfahrungen schreiben wollen und womöglich gar nicht daran interessiert sind, irgendwelche Alternativen zu bieten. Vielmehr geht es darum, all jenen, die ähnliches erlebt haben, einen Spiegel zu geben, indem sie sich und ihre eigene Lebensrealität wiederfinden. Auch das darf Literatur.

Glücklicherweise ist Andrew Sean Greer aber kein „bad gay“ und kommt auch gar nicht erst auf die Idee, sich für eines dieser beiden Extreme zu entscheiden. Stattdessen zeigt er die Katastrophen des Arthur Less aus einer neuen, einer humorvollen Perspektive. Nie lacht man über Arthur Less, man lacht stets mit ihm. Es gibt wohl nur wenige Autoren, die es schaffen, ihre Helden zu schelten und ihnen gleichzeitig mit so viel Liebe zu begegnen, dass man trotz aller Vorbehalte auf ihrer Seite ist.

„Come on, Arthur. Do it. Get fat with us. The best is yet to come.“

Auch Arthur Less ist gezwungen zu akzeptieren, dass für sein Leben womöglich eine vollkommen neue Perspektive her muss. Was bedeutet es heutzutage, ein offen schwuler Mann Anfang 50 zu sein? Ihm fehlen die Vorbilder, es scheint sich bei ihm um eine vollkommen neue Spezies zu handeln. Läuft er also den Idealen der jüngeren Generation hinterher und verfällt einem Körperkult der Muskeln und stählernen Körper?

Und was bedeutet es erfolgreich zu sein? Wie lebt sich ein Leben in der Nähe von Genialität, die man nie selbst erreichen wird? Less‘ früherer Partner Robert wurde mit dem Pulitzer Preis für sein lyrisches Werk ausgezeichnet. Es ist schon erstaunlich, dass der Roman neben all den anderen Themen es auch noch schafft, seine eigene Auszeichnung im Voraus zu reflektieren. Aber auch Arthur Less kommt zu der Erkenntnis, dass Preise relativ wenig bedeuten: „You win a prize, and it’s all over. You lecture for the rest of your life. But you never write again.“

Und ganz zum Schluss ist dann noch das Rätsel, wer der Erzähler von Arthur Less‘ langer Odyssee ist. Wenn die leise Ahnung, die einem beim Lesen beschleicht, dann endlich bestätigt wird, bleibt einem nichts anderes übrig, als das Lachen verstummen zu lassen und in die glücklichsten Tränen auszubrechen, die man seit langem vergossen hat. Der dichte Tränenschleier macht es vielleicht schwerer, die letzten Seiten zu lesen. Aber das macht nichts, man möchte das Buch sowieso direkt von vorn lesen.

Also hat Less den Pulitzerpreis verdient? Ich kann es nicht sagen. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass Greers Prophezeiung nicht wahr wird und er noch viele weitere Bücher schreiben wird.

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