„Meine Familie wohnte tief im Landesinneren, auf der anderen Seite des Damms, hinter der Stadt. Mit seinen hohen Silos und dem Bahnhofsgebäude, an dem täglich über 12 Züge abfuhren, ragte Skive mitten aus der Einöde empor. Die Züge fuhren nach Kopenhagen und Hamburg. Auf meiner Seite des Damms lagen viele kleine Dörfer. Nørre Ørum hieß der Ort, in dem wir wohnten. Ein Vorort der Finsternis, eingequetscht zwischen unzähligen anderen unbedeutenden Dörfern. Ich glaube, es ist für niemanden gut, für längere Zeit dort zu leben. Überall war so viel Tod.“
‚Hof‘ (aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps) ist der Debütroman des dänischen Autors Thomas Korsgaard und zugleich der Auftakt der Trilogie um ihren Protagonisten und Erzähler Tue. Korsgaard gilt dank der Trilogie, bei deren ursprünglicher Veröffentlichung er gerade einmal 21 Jahre alt war, als „Wunderkind der dänischen Literatur“. Und wer diesen Roman gelesen hat, wird sehr wahrscheinlich einsehen müssen, dass dieser krönende Titel ausnahmsweise nicht übertrieben ist.
Tue wohnt mit seinen Eltern, Geschwistern und acht namenlosen Hunden auf einem heruntergewirtschafteten Hof, abgehängt vom Rest der Welt – geographisch als auch gesellschaftlich. Der Vater neigt zu gewalttätigen Ausbrüchen, die Mutter nach einer Totgeburt zu Depressionen und einer Spielsucht. Das Leben auf dem Hof ist „die gesammelte Anzahl von sonderbaren, unbegreiflichen Regeln, die eine Tradition ausmachten, und die gesammelte Anzahl von Traditionen, die eine gute Familie ausmachten.“ Hier haben der Tod, das Schweigen und die Tatsache, dass nie jemand weint, Tradition.
Von klein auf ist Tue vom Tod umgeben: „An Lungenentzündung verendete Kälber, manchmal die Leiche einer wilden Katze oder ein von einem Fuchs zerfetztes Huhn.“ Eine ganze Seite füllen die Todesanzeigen jeden Tag in der Zeitung, zwischen Tier und Mensch wird allerdings kaum unterschieden. Als Tues Mutter eines ihrer Kinder verliert, ist das eine Katastrophe, aber eine von der erwartet wird, dass sie schnell überwunden ist. Ohne die Möglichkeit mit jemanden über den Verlust zu reden und vollgepumpt mit Medikamenten, lenkt sich Tues Mutter am Computer mit Glücksspielen ab. Dass sie krank ist, das sieht nur der naive und kindliche Erzähler. Der Rest der Welt sieht in ihr eine Frau, die sich nicht um ihre Kinder kümmert.
Es ist ein Ort, an dem das Schweigen und die Weigerung zu weinen, die Trauer nicht weiterziehen lassen, wo etwas aus den Augen der Menschen verschwindet. Doch nicht Tue. Als Kind und als Jugendlicher ist er neugierig und hinterfragt die Regeln der Erwachsenen, egal, wer sie ihm auferlegt. Nicht selten wird eine seiner Aktionen mit einem „Verdammt, Tue“ kommentiert, ob er nun des Unterrichts verwiesen wird, mit seinem Vater Kabel klaut oder beim Pfanddiebstahl im Getränkemarkt erwischt wird. Ein schlechtes Gewissen? Fehlanzeige: „Es gab so viele andere schlechte Menschen auf der Welt, dass ich unmöglich der schlimmste sein konnte.“ Deswegen gesteht Tue auch ohne schlechtes Gewissen an Neujahr seiner Großmutter, dass er sich eine neue Familie wünscht – weil er so viel mehr will.
‚Hof‘ hat keine besonderen Sympathieträger, auch nicht auf Seiten derer, von denen man meinen sollte, dass sie in all ihrer Großzügigkeit ihre Hand ausstrecken, um Tue aus dem Dreck und dem Elend zu ziehen. Auch sie begegnen dem Jungen mit Unverständnis und oft mit Verachtung. Wenn Tue sich retten will, ist er auf sich allein gestellt. Ähnlich sieht es aber auch mit den klassischen Bösewichten aus, die es in Thomas Korsgaards Welt genauso wenig gibt.
Dass Tue in seiner Jugend langsam seine Homosexualität entdeckt, macht ihn zu einem noch größeren Außenseiter – auch wenn diese Entdeckung bei weitem nicht so viel Platz einnimmt, wie man es in einer Geschichte wie dieser erwarten könnte. Anstatt zu verzweifeln, sucht Tue sich eine beste Freundin, mit der er davon träumt, in die Großstadt zu flüchten, und mit der er heimlich raucht und sammelt erste sexuelle Erfahrungen, die mehr unbeholfen als welterschütternd sind. Die universelle schwule Coming-of-Age-Erfahrung also, aber ohne die ganze ‚angst‘ ähnlicher Erzählungen.
Thomas Korsgaards Romane werden oft mit denen Édouard Louis‘ verglichen. Im Bezug auf den sozialen Hintergrund der Figuren, von dem beide Autoren erzählen, mag der Vergleich berechtigt sein. Doch wie sie ihre Geschichten erzählen – und zu welchem Zweck – könnte unterschiedlicher nicht sein. Denn Thomas Korsgaard ist ein ganz und gar klassischer Erzähler. Auch wenn das folgende Zitat von Oscar Wilde exponentiell Verwendung findet, ist es in diesem Kontext nicht weniger passend: „Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, sonst nichts.“ Thomas Korsgaard erzählt mit einer erstaunlichen Leichtigkeit aus dem Leben von Tue und dem seiner Familie, Episoden, die vor allem von Tiefs als von Hochs geprägt sind. Eine Moral wird man hier vergeblich suchen. Wovon der Roman aber erzählt, ist von der unbändigen Lust am Leben und das ist – der Armut, dem Tod und dem Unverständnis der Umwelt zum Trotz – wunderschön und zum Schreien komisch.