Simon Froehling – DÜRRST

Simon Froehling - DÜRRST

„Du bist gesund genug, dich zu verlieben, beschließt du an einem selbst für Athen ungewöhnlich heißen Oktobermorgen – ja, traust dich sogar zu sagen: gesund genug für die Liebe.“

DÜRRST, der zweite Roman von Simon Froehling, ist ein Spiel der Nähe und der Distanz. Der Roman ist konsequent aus der Du-Perspektive geschrieben, wie eine Geschichte, die man sich selbst erzählt, von der man sich aber auch zugleich distanzieren will – und sich als Leser*in unweigerlich angesprochen fühlt. Dieses Du ist körperlos, es besteht „lediglich aus Gedanken, die sich zu Sätzen formen, die einander jagen, überholen, überstürzen, überbieten. Sätze, die Pirouetten drehen und sich in Spiralen zu Paragrafen hochschrauben, die sich über Seiten ergießen und noch mehr Seiten.“

In seinem Ex-Leben stammt Andreas Durrer – von seinen Freunden nur Dürrst genannt – aus einer gutbürgerlichen Familie, eine Familie, die einem Gefängnis gleicht und Fritz Zorns Roman Mars entsprungen zu sein scheint. Mit 16 kommt es zum Bruch – Dürrst führt ein Leben zwischen Klappen, Besetzerszene und der Kunst. Bereits seine erste Ausstellung wird ein voller Erfolg: Inspiriert von James Baldwins Giovanni’s Room baut er eine maßstabgetreue Nachbildung vom Zimmer der beiden Liebenden. Doch auf das Hoch folgt der Absturz und die Diagnose: bipolare Affektstörung.

In seinem Jetzt-Leben glaubt Dürrst sich gefestigt. Die Begegnung mit Paul ist eine Belohnung des Universums, es winkelt beide Ellenbogen an und dreht die Hände gen Himmel wie dieses Emoji-Männchen, von dem niemand weiß, was es genau bedeutet: „Sieht nur, was ich alles kann.“ Selbst die Kunst, die ihn den Jahren zuvor fremd geworden ist, öffnet sich ihm wieder. Dürrst plant eine Fotoserie, aufgenommen mit Wegwerfkameras: „Die einzelnen Fotos, immer das Abbild der Gegenwart, nämlich jener, in der du auf den Auslöser drückst, zeigten in der Summe einer jeweiligen Kategorie, also durch ihren seriellen Charakter, gleichzeitig eine Vergangenheit auf, obwohl eine erkennbare Chronologie fehle und würden, da es sich um eine Arbeit handle, die sich endlos entfalten könnte, zusätzlich in die Zukunft verweisen, wodurch die Frage nach dem „Wie weiter?“ beschworen werde.“

Der Roman spring zwischen den verschiedenen Zeitebnen in der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her, bis es immer schwieriger wird, zwischen ihnen zu unterscheiden. Die Obsession, mit der Dürrst die räumlichen Dimensionen von Giovannis Zimmer nachgebaut hat, steht der scheinbaren Indifferenz der zeitlichen Dimensionen gegenüber. Wo beginnt die Gegenwart? Und wo hört die Vergangenheit auf?

Die Szenen des Romans gleichen Momentaufnahmen, teils inszeniert und teils spontan, so wie auch die Fotografien von Dürrsts Wegwerfkamera. Bilder, die durcheinander geraten scheinen, aber ein bestimmtes Konzept verfolgen, aufgenommen im entscheidenden Augenblick, so dass die Illusion einer Bewegung entsteht, sich vielleicht aber doch alles im Stillstand befindet, dass Vergangenheit und Gegenwart parallel zueinander verlaufen.

Wie auch in seinem Debütroman Lange Nächte Tag thematisiert Simon Froehling, was es bedeutet, schwul zu sein, ohne es deswegen zum Thema zu machen. Édouard Louis‘ zweiten Roman Im Herzen der Gewalt heraufbeschwörend, wird durch Andeutungen und die Unzulässigkeit der Erinnerungen ein Trauma thematisiert, für das es unter schwulen Männern keine Sprache zu geben scheint, ein Trauma, das wie ein klagender aber sprachloser Poltergeist im Hintergrund lauert.

Simon Froehling verwebt in DÜRRST die nur scheinbar verschiedensten Themen kunstvoll über ein extrem gekonntes Zusammenspiel von Form und Inhalt. Denn im Zentrum von DÜRRST stehen die Fragen, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft beeinflussen kann, was uns ausmacht und ob wir uns je von der Vergangenheit losmachen können.

DÜRRST ist auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2022. Der Preis und viele Leser*innen sind dem Roman zu wünschen.

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