Ronya Othmann – Die Sommer

Ronya Othmann - Die Sommer

Das Erinnern an die Sommer beginnt für Leyla 2011. Es ist die Zeit der Revolution, der Massaker und der Bombardierungen. Und weil es nichts Schlimmeres als das Vergessen gibt, macht man einen Schritt nach den anderen und beginnt zu erzählen.

Die Sommer verbringt Leyla in Nordsyrien nahe der Grenze zur Türkei, im Dorf der Großmutter. Den Rest des Jahres lebt sie mit ihren Eltern, einer Deutschen und einem êzîdischen Kurden, in München. Nicht immer lassen sich diese Welten vereinen. Jedes Jahr aufs Neue muss sie auf Kurdisch um Worte ringen, was sie lernt, vergisst sie im folgenden Jahr wieder. Dass sie so viel liest und studieren will, dass sie nicht von ihrer Hochzeit träumt, erregt bei den Verwandten im Dorf Anstoß. In Deutschland sind es die schwarzen Haare auf ihren Armen, für die sie sich schämen muss, auch ihr Körper muss sich dem Druck nach Anpassung beugen. Ob sie Türkin sei, wird sie oft gefragt. Antwortet sie, dass sie Êzîdin sei, reagieren die Menschen verwirrt, Kurdin allerdings ist eine gefährliche Antwort, sie kann Hass hervorrufen. Später, wenn sie vom Völkermord an den Êzîden berichtet, reagiert ihre Umgebung mit Gleichgültigkeit. Überall auf der Welt passieren schlimme Dinge.

„Ein êzîdisches Leben ist eines, das jeden Moment zu Ende sein kann.“, so Leylas Vater. Man weiß, wo die Koffer stehen, ist auf die Flucht vorbereitet, sollte das Dorf wieder umzingelt werden. Notfalls flüchten die Leute in alle Himmelsrichtungen nur mit dem, was sie am Leib tragen. Die kurdische Sprache ist in der Öffentlichkeit verboten, so wie auch dem Vater der Zutritt zur Universität verwehrt wurde. Er ist im eigenen Land ein Staatenloser. Auch er wurde, wie so viele andere auch, verhaftet und gefoltert, bevor ihm die Flucht nach Deutschland gelungen ist. Auch der Vater: „Leyla, du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist.“

Im Angesicht der Auslöschung versucht Leyla sich zu erinnern, doch sie kann die Sommer ihrer Kindheit und Jugend in keine sinnvolle Reihenfolge bringen und muss die Geschichte den Leser*innen zwangsläufig so erzählen, wie sie sich erinnert. Ronya Othmanns Debüt Die Sommer ist in diesem Sinne auch eine mythologische Erzählung. Denn im Herzen eines jeden Mythos liegt die Frage, wo wir herkommen. In der Tradition des oralen Erzählens sind es ihre Großmutter und ihr Vater, die Leyla ihre persönliche und kollektive Geschichte erzählen. Davon wie Gott aus einer Perle die Welt geschaffen hat und von den sieben Engeln, die er in alle Himmelsrichtungen schickte, in die ihnen die Êzîden später auf ihrer Flucht folgen würden. Von der Flucht der Familie und wie sie in das Dorf Tel Khatoum kam. Ihre Erzählungen sind Chronik und Beweisführung, ein Beharren darauf, dass sich ihre Leben nicht auslöschen lassen, wie in den Staub geschriebene Namen.

Auch Leylas Name hat seine eigene Geschichte. Sie wurde nach drei großen Frauen benannt: Leyla Zana, eine Abgeordnete im türkischen Parlament, Leyla Qasim, die gegen die Baath-Diktatur kämpfte und mit 22 Jahren hingerichtet wurde, und Leyla, die Frau, die der Vater als junger Mann heiraten wollte, die sich dann aber einen neuen Namen gab und im Widerstand in den kurdischen Bergen gefallen ist. Aber wie kann das Wissen über die eigene Geschichte den Weg in die Zukunft weisen?

Leyla bewegt sich in zwei Welten, in beiden gibt es eine gewisse Distanz zwischen ihr und ihren Mitmenschen. Dass sie Frauen liebt, erfahren weder ihre Eltern noch ihre Familie im Dorf. Den Frauen, die sie liebt, kann sie nicht ihren Zorn über die Gräueltaten in Kurdistan begreiflich machen, sie verzweifelt an ihrer Gleichgültigkeit.

Ronya Othmann verwebt mühelos die verschiedenen Ebenen ihres Romans, das wirkt nie angestrengt oder gekünstelt.  Die Sommer lässt sich nicht dazu herab, unlösbare Konflikte zu einem Ende zu führen oder einfache Antworten zu geben. Es ist der zornige Versuch, gegen das Vergessen anzuschreiben und das Unsagbare auszusprechen.

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