„Unten im Keller lagerten eine Menge Kisten. Sie enthielten Glühbirnen, säuberlich in Pappe und Holzwolle verpackt und gehörten der Firma Baumann. Eine von diesen Kisten enthielt besonders kräftige Birnen. Es war die, die für das diesjährige Matriger Seenachtsfest im Juli reserviert blieben. Die Kiste trug auf ihrem Bauch ein großes gemaltes ,S‘.“
Jenen, welcher der Name Richard Plant (1910-1998) etwas sagt, bringen ihn vermutlich zuallererst mit seinem 1988 erschienenen Sachbuch ‚The Pink Triangle: The Nazi War against Homosexuals‘ in Verbindung. Obwohl der jüdische und homosexuelle Schriftsteller selbst zunächst in die Schweiz und dann in die USA flüchte und sich im Umfeld von u.a. Hannah Arendt und Klaus Mann bewegte, wurde er erst Anfang der 1970er Jahre als Teil der Schwulenbewegung politisch aktiv. Als junger Mann hingegen hegte er eine Faszination für die Unterhaltungs- und die Kriminalliteratur. Dass er bereits mit 26 Jahren einen Roman für Kinder veröffentlicht hat, dessen Herz eine Kriminalgeschichte und eine Liebesgeschichte zwischen zwei Jungs ausmacht, ist also wenig verwunderlich. Und wieder ist es den kleinen und unabhängen Verlagen zu verdanken, dass diese Geschichte modernen Leser*innen zugänglich gemacht wird. Ulrich Leinz hat Richard Plants Kinderoman ‚Die Kiste mit dem großen S‘ im Gans Verlag herausgegeben, inklusive zweier Nachwörter und der Originalillustrationen von Leo Meter aus der niederländischen Übersetzung.
Herr und Frau Baumann hinterlassen ihre Kinder Hanneli, die Zwillinge Mutz und Peter und das Nüßlein in der Obhut der Bertha, denn Herr Baumann soll seinen Rheumatismus in Ragaz kurieren. Allerdings verpasst Hauswirtin Bertha die Verabschiedung der Familie nicht einfach, sondern muss kurz nach der Abreise mit einem entzündeten Blinddarm ins örtliche Spital eingeliefert werden. In einer Zeit ohne Handy und Internet ist das nicht schnell und einfach kommuniziert und die Geschwister entscheiden sich, dass es in diesem Fall ausnahmsweise in Ordnung ist, zu lügen und sie in ihren täglichen Briefen an die Eltern nicht von ihrer misslichen Lage berichten. Schließlich wollen die vier dafür verantwortlich sein, dass diese ihre wohlverdiente Kur abbrechen müssen.
Für drei Wochen stellen sich die Geschwister also dem Abenteuer des Erwachsenseins, kümmern sich selbständig um den Haushalt, die Hausaufgaben und dass das Nüßlein zeitig zu Bett geht. Doch dann geschieht das Unfassbare, die im Keller gelagerten und besonders wertvollen Glühbirnen aus dem Geschäft der Eltern sind verschwunden: „[S]elbst in dieser kargen Beleuchtung ließ sich die Sachlage nur allzu deutlich erkennen. Die Kiste mit dem großen ,S, in der die besonders starken Birnen für das diesjährige See-nachtsfest im Juli aufbewahrt gewesen sein mußten, die Kiste mit dem großen ,S‘ also war halbleer. Zwar gab es noch viel Pappdeckel und Holzwolle, aber die Hälfte der Birnen war weg.“ Nun stecken die Geschwister in einem waschechten Kriminalfall und müssen dem Dieb das Handwerk legen.
Auf den ersten Blick mag die Handlung von ‚Die Kiste mit dem großen S‘ nicht besonders ereignisreich oder aufregend sein. Richard Plant schafft es aber ganz wunderbar, diese Zeit im Leben eines Kindes einzufangen, in der das alltägliche Leben noch durchgängig von der eigenen Fantasie befeuert wird und die eigene Welt größer erscheint als sie eigentlich ist: „Die Kinder schwiegen. Die Uhr im Wohnzimmer tickte, langsam und schwerfällig, wie sie immer getickt hatte. Aber es kam ihnen vor, als klänge sie jetzt ganz anders. Auch das Wohnzimmer sah verändert aus. Das hohe Buffet mit den silbernen Schalen machte einen finsteren Eindruck, dem Schrank merkte man direkt an, daß er abgeschlossen war, so ein strenges Gesicht machte er.“ In dieser Hinsicht ist der Roman natürlich auch ein Coming-of-Age Roman, denn während ihres Abenteuers erahnen alle vier, wie groß die Welt tatsächlich ist.
Kinderfiguren zu schreiben, ist alles andere als einfach. Entweder kommen sie altklug oder allzu nervig daher, doch indem der Erzähler in einer kindlich anmutenden Weisheit auf die Geschwister blickt, schafft er es, das Bild einer chaotischen, aber liebevollen und sympathischen Truppe zu zeichnen. Richard Plant lässt sie Kinder und dabei auch Mensch bleiben, alle Figuren haben schlechte Eigenschaften, die durch ihre guten Charakterzüge ausgeglichen werden.
In der Freundschaft der beiden Jungen Peter und Karli werden die meisten Leser*innen vermutlich genau das sehen: eine innige Freundschaft. Denn explizit benannt wird hier natürlich nichts. Und doch vermute ich, dass geübte Augen (und Herzen) sehr schnell begreifen werden, dass Richard Plant mit dieser Freundschaft auch die Geschichte einer aufkeimenden ersten Liebe erzählt.
Als schwuler Mann ohne Kinderwunsch obliegt es mir wahrscheinlich nicht zu urteilen, ob dieser Text fast 90 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung auch weiterhin eine geeignete Lektüre für Kinder darstellt (obschon ich selbstverständlich der Meinung bin, dass Texte für Kinder grundsätzlich ein Misstrauen gegenüber dem polizeilichen Staatsorgan lehren sollten, was in diesem Text definitiv nicht der Fall ist). Und doch halte ich diesen Text – vielleicht auch aufgrund der gesellschaftlichen Außenseiterrolle, die Richard Plant in doppelter Hinsicht einnahm, und der daraus resultieren Perspektive auf seine Umwelt – für äußerst modern. Denn in der Regel werden die im Text propagierten und mittlerweile veralteten Rollen- und Geschlechtsbilder durch die Handlungen der Figuren eindeutig widerlegt. Trauen wir den Kindern also vielleicht einfach etwas zu, denn sie hinterfragen in der Regel mehr als mensch denkt. Das beweisen ja dieser feine Text und auch die nicht immer ganz so feine Realität. So oder so, dieser ganz und gar erwachsene Rezensent hat eine fast kindliche Freude beim Lesen dieses Romans empfunden.