Mit Von Zeit zu Zeit (aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Carsten Regling) sind die Tagebücher des spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes (1949 – 2015) erschienen. Sie decken den Zeitraum zwischen 1983 und 2005 ab und erzählen vom Nachtleben in Madrid, von Sex, Alkohol und Drogen, aber auch vom Schreiben, den ständigen Selbstzweifeln und immer wieder von der rettenden Kraft der Literatur.
Die Tagebücher sind zweigeteilt, Teil 1 deckt die Jahre zwischen 1984 und 1992 ab, Teil 2 1995 bis 2005. Dass es in den Tagebüchern diese klaffende Lücke gibt, hat verschiedene Gründe, einer von ihnen ist der Tod von François, einem langjährigen Geliebten von Chirbes.
Die Beziehung ist intensiv und leidenschaftlich, aber auch von Momenten der (Selbst)erniedrigung geprägt. Alkoholexzesse und Eifersuchtsszenen wechseln sich ab, verkompliziert durch die Distanz zwischen Spanien und Frankreich. François will seinen Geliebten in den Abgrund mitreißen, denn im Gegensatz zu ihm hat er keinerlei Ambitionen: „Seine Hingabe, seine Nervosität erschrecken mich. Als ob unsere Beziehung alle Lücken seines Lebens, die außerhalb der Arbeit bleiben, ausfüllte. Ich erkläre ihm, dass dies nicht so ist, nicht sein darf, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir mehr als tausend Kilometer voneinander entfernt leben.“
Chirbes hat die Beziehung und den Tod des langjährigen Geliebten in dem posthum veröffentlichen Roman Paris-Austerlitz (aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz) verarbeitet. In diesem flüchtet ein junger Maler vor seiner gutbürgerlichen Familie von Spanien nach Frankreich, wo er sich in Michel verliebt, einen Arbeiter Mitte 50 – der wie auch François an AIDS sterben wird.
Ein direkter Vergleich zeigt, dass Chirbes keine Autofiktion geschrieben hat. François und er stammten beide aus einfachen Verhältnissen und waren ungefähr gleichalt. Dass Chirbes einen Teil der Tagebücher ‚Ein Zimmer in Paris‘ nachträglich betitelt, zeigt inwiefern die Kunst das Leben und das Leben die Kunst beeinflussen, denn die Parallelen zu James Baldwins Giovanni’s Room sind offensichtlich, etwas, das Chirbes bereits während seiner Beziehung zu François gespürt haben muss, erwähnt er doch die Lektüre von Baldwins Roman.
Als der Roman 2016 veröffentlicht wurde ging die SZ in ihrer Rezension so weit vom literarischen Coming Out von Chirbes zu sprechen. Dabei hat Chirbes aus seiner Sexualität nie ein Geheimnis gemacht. Sowohl sein Debüt, die Novelle Mimoun (aus dem Spanischen von Elke Wehr), als auch sein vierter Roman (wenn hier auch nur periphär) Der Schuss des Jägers (aus dem Spanischen von Elke Wehr) thematisieren Homosexualität. Chirbes selbst war an Homosexualität als literarisches Thema nur wenig interessiert: „Nichts davon interessiert mich als Literatur – (…) Schwule sollen heiraten (in Kürze wird das möglich sein) und öfter zum Baggern in die Sauna oder in Kneipen gehen, oder noch besser: Sie wollen nirgendwohin gehen und lieber versuchen, mit den Nachbarn zu vögeln, die ihnen gefallen, denn letzten Endes ist das die einzige wirklich wünschenswerte Normalität.“
Auch deswegen wäre es wohl zu kurz gegriffen, Paris-Austerlitz beispielsweise als schwule Literatur zu bezeichnen, denn auch wenn das Buch eine schwule Liebe und AIDS thematisiert, steht vor allem ein Thema im Vordergrund – die Grenzen der Liebe.
All das soll nicht heißt nicht, dass Chirbes sich in den Tagebüchern bei der Schilderung seiner Sexualität zurückhalten würde: „In vier Tagen haben wir nicht voneinander gelassen. Ich hätte nie gedacht, dass man so viel vögeln kann und mit so viel Lust. »Je suis fou«, sagt er. Ein Franzose kann so etwas sagen. Ich denke es: Ich bin auch verrückt, auf meine Weise, wir riechen nach all den Säften und Flüssigkeiten, die der menschliche Körper in sich birgt. Egal, duschen können wir auch später.“ Wir begleiten Chirbes bei seinen Streifzügen durch Kneipen, die oft einem Exzess aus Alkohol und Drogen gleichen, sind dabei, wenn die Nacht mit Poppers und Sex endet.
All das gerät im zweiten Teil der Tagebücher in den Hintergrund. Hier dominieren das Schreiben – beziehungsweise die Unfähigkeit zu schreiben. Chirbes wird immer wieder von Selbstzweifeln und schwersten Depressionen geplagt. Die Anpassung seiner Umgebung an bürgerliche Ideale mit dem Ende der Franco-Diktatur rufen in ihm vor allem Wut und Verachtung hervor. Denn Chirbes stammt aus einer proletarisch-republikanischen Familie, der Marxismus prägt seine Jugend. Entsprechend ist seine Einstellung gegenüber dem Literaturbetrieb und vor allem die Literaturkritik, die er als bürgerliche Institution betrachtet: „Es gibt kein Heilmittel gegen die Klassenherkunft, nicht einmal Geld oder soziales Prestige. Das erstaunt mich nicht. Als Materialist weiß ich, dass die Seele ein Abbild der Umstände ist, ein komplexes Geflecht aus Formen, Tabus, Hoffnungen, Misstrauen und Groll, das sich in der frühen Kindheit herausbildet. Sie ist eine Komposition, eine Kombination aus Materialien, aber auch eine Wunde, gegen deren Schmerz du dich wehrst, und sogar vor deinen eigenen, klassenlosen Kindern zeigst du die Krallen eines Tieres von unten.“
Es ist aber immer wieder die Literatur, die Chirbes rettet. In ihr findet er wenn keine Antwort, so doch immer einen Weg, eine Richtung. Das liest sich mitunter durchaus amüsant, denn Chirbes ist nicht eitel. Er hinterfragt die eigene Erfahrung und das Alter, versucht auch durch die Lektüre von jungen Stimmen das aktuelle Geschehen in der Literatur zu begreifen.
Wer sich nicht mit dem Werk Chirbes‘ auskennt, braucht die Lektüre der Tagebücher nicht zu scheuen. Denn Chirbes selbst hat sich eine Veröffentlichung gewünscht und seine Schriften entsprechend vorbereitet. Darüber hinaus liefert das sehr kluge und informative Vorwort von Heinrich von Berenberg ausreichend Kontext, um Leser*innen den Einstieg zu ermöglichen. Die Tagebücher laden vor allem aber dazu ein, das Werk dieses viel zu unbekannten Schriftstellers kennenzulernen. Ein Großteil seiner Romane ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Der Verlag hat zuletzt parallel zu den Tagebüchern die gesamte Spanien Trilogie, bestehend aus Der lange Marsch, Der Fall von Madrid und Alte Freunde (aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz) veröffentlicht.