„Ihre Hand lag schon auf der Türklinke, aber in ihrer Feigheit hat sie sie nicht runterzudrücken gewagt. Sie stand schon auf der Schwelle und spähte in die Dämmerung, in den verlockend duftenden Raum, aber in ihrer Langsamkeit hat sie es nicht über die Schwelle geschafft, ehe die Tür zuknallte.“
Es beginnt mit einer Reise: eine kleine, unbewohnte Insel, scheinbar unberührt von jeglichem menschlichen Kontakt. Anwesend sind fiktionale Versionen von Pirkko Saisio und ihrer Bekannten Honksu – und eine tote Robbe. Per Telefon dazu geschaltet ist Pirkko Saisios Lektor, Touko Siltala. Denn das ursprüngliche Manuskript von ‚Das rote Buch der Abschiede‘ ist unwiderruflich verloren, das Buch muss neu geschrieben werden: „Das rote Buch der Abschiede, das ich noch einmal schreibe, ist ein anderes als Das rote Buch der Abschiede, das am siebten August um fünf Uhr morgens verschwand.“ Pars pro toto steht diese einleitende Szene für das, was noch kommt: Aufbruch und Pioniergeist, Tot und Verlust und das entscheidende Motiv, dass bereits Erinnerungen Fiktion sind. Denn ‚Das rote Buch der Abschiede‘ hätte so aber auch anders geschrieben werden können. Die Pirkko Saisio, die es jetzt schreibt, ist eine andere. Auch von der Person, die sie war, muss sie sich verabschieden.
‚Das rote Buch der Abschiede‘ von Pirkko Saisio (aus dem Finnischen von Elina Kritzokat) bildet den Abschluss einer autofiktionalen Trilogie. Ursprünglich ist das Buch bereits 2003 erschienen und wurde mit dem Finladia Preis ausgezeichnet. Dass der Klett-Cotta Verlag zuerst den Abschluss der Trilogie veröffentlicht (der zweite Teil ist bereits für das Frühjahr 2024 geplant), liegt wohl auch daran, dass der Roman einen leichten Einstieg in das Werk Saisios bietet, gibt er doch einen guten Überblick über ihr (fiktives) Leben von ihrer späten Jugend bis hin zur Geburt ihrer Tochter und dem Verlust ihrer eigenen Mutter als erwachsene Frau.
Pirkko Saisio stammt aus einer evangelisch geprägten Arbeiterfamilie. Als junge Frau an der Universität entwickelt sie ein Bewusstsein für Klasse. Sie beobachtet Gestus und Habitus ihres Umfelds, die Mitglieder des Studententheaters, allesamt Bier trinkende Arbeiter, auf der einen Seite und die Studierenden der Theaterhochschule, die ohne Ironie Tango tanzen und Wein trinken und gegen ihr Elternhaus aufbegehren, auf der anderen Seite. Zeit und Kunst sind von der Politik geprägt – die Studierenden verstehen sich größtenteils als Kommunist*innen. Damals wie heute wird darüber diskutiert, was Kunst soll, darf und kann.
Für Saisio genauso prägend wie der Kommunismus ist aber auch das finnische Gesetzbuch, das Homosexualität unter Strafe stellt. „Es gibt auch Frauen, die Frauen lieben.“, offenbart ihr eine Kommilitonin und löst damit in ihr eine ganz andere Revolution aus. Sie findet ein Zuhause in der im Verborgenen stattfindenden queeren Kultur Helsinkis, wo Mädchen sich an Mädchen schmiegen und Jungs einander küssen. Dieses neue Zuhause geht mit einer ganzen Reihe an Abschieden einher. Ihre Mutter trennt sie mit einem Seziermesser von ihrem Hintergrund, sie löst sich von ihrem Elternhaus. Und auch ihre Ideale werden infrage gestellt, denn auch unter den Kommunist*innen gilt Homosexualität, wenn nicht als dekadenter Auswuchs des Kapitalismus, so doch als individuelles Problem, welches dem universellen Klassenkampf untergestellt ist: „Angesichts der Klarheit und Dringlichkeit der roten Argumente sind ihre heimlichen kriminellen Spiele im grünen Zimmer und der Hunger ihrer Poren eine ziellose, privatistische Peinlichkeit.“ Diese Spaltung – „Sie (das bin ich)“, schreibt Saisio an einer Stelle – offenbart die wohl größte Fiktion und den wichtigsten Abschied des Textes: die vom vergangenen Ich in all seinen Variationen.
‚Das rote Buch der Abschiede‘ erhält seine Form durch das Spiel der Farben und Bilder: „Erinnerungen heften sich nicht an Wörter. Sondern an Bilder, an Kristalle aus Farben, Gerüchen und Bewegungen, die sich gegenseitig anstoßen.“ Das Buch gleicht formal einem Meer aus Erinnerungen, die scheinbar wahllos und doch miteinander verknüpft an die Oberfläche geschwemmt werden. Die oft kurzen Absätze geben Raum zum Atmen, sie imitieren das langsame Auf- und Absteigen dieser Bilder aus dem bodenlosen Tiefen des Gedächtnisses. Hier und da verrät ein einzelnes ‚und‘ am Ende eines Absatzes die Verbindung zum nächsten Bild.
Pirkko Saisios Themen werden Leser*innen durchaus bekannt vorkommen. Die Auseinandersetzung mit und Kombination aus Autofiktion, Klasse, Queerness, Kunst und Mutterschaft ist so nicht neu. Deutsche und internationale Verlage veröffentlichen seit einigen Jahren verstärkt Autor*innen wie Édouard Louis, Constance Debré, Annie Ernaux und Tove Ditlevsen, die sich zumindest teilweise mit diesen Themen beschäftigen. Autofiktion hat Konjunktur. Das ist keine Aussage über die Qualität des Textes an sich, sondern viel mehr über den Kontext, in welchem er veröffentlicht wird.
Trotzdem, als ‚Das rote Buch der Abschiede‘ 2003 veröffentlicht wurde, muss die Kombination von Saisios Themen für Lesende in Finnland einer kleinen literarischen Revolution geglichen haben. Denn immerhin war Saisio, vor allem, was die Kombination der Themen Queerness und Klasse betrifft, ihrer Zeit um Jahre voraus. Ist das auch noch 2023 so? Allein die Frage impliziert natürlich, dass ich sie nicht mit einem eindeutigen Ja beantworten kann. Natürlich, ich kann nur von meinen eigenen Leseerfahrungen sprechen, ich glaube jedoch, dass es anderen ähnlich gehen könnte.
Das Problem, wenn man es denn überhaupt so nennen möchte, ist nicht das Buch selbst. Gewisse Themen sind allerdings derart vor Selbstmitleid triefend in der Literatur durchgenudelt worden (ja, ich spreche von Édouard Louis), dass mensch/ich bei gewissen Themen – selbst jenen, die einen unmittelbar selbst betreffen – nicht mehr die gleiche Euphorie empfinden kann. Das ist vor allem auch deswegen schade, weil Pirkko Saisio sich diesen Themen ganz anders nähert, halt ohne nach unten zu treten und auch mit einem gewissen Humor. Vor allem hat sie sich als lesbische Frau viele Jahre vor ihren schwulen Kollegen (besser) mit dieser Themenkombination beschäftigt. Es ist halt ein bisschen so, als würde einem jemand das Ende eines Films verraten. Natürlich, die Handlung hält noch immer Überraschungen bereit, sie bewegt uns, kann uns sogar etwas Neues über die Welt verraten. Doch letzten Ende fehlt dieses eine Element der Überraschung, welches das Filmerlebnis zu einer wahren Offenbarung macht.
Das macht ‚Das rote Buch der Abschiede‘ von Pirkko Saisio nicht zu einem schlechten Buch. Ich würde sogar behaupten, dass es ein gutes Buch ist. Letzten Endes habe ich meine Lektüre aber trotzdem zwiespältig beendet, ein Gefühl, das ich – ganz offensichtlich! – nur schwer in Worte fassen kann, weil es viel mehr mit mein Leseverhalten der vergangenen Jahre widerspiegelt als die Qualität des Textes selber. Doch würde ich behaupten, dass auch das unter anderem ein Grund ist, ‚Das rote Buch der Abschiede zu lesen‘. Denn eine Lektüre, die auch Fragen über (autofiktionale) Literatur aufwirft, einen zwingt, sich mit den eigenen Leseverhalten und der eigenen Rezeption von Literatur auseinanderzusetzen und diese womöglich auch zu hinterfragen – diese Lektüre kann nur lohnend sein.