»Was für ein merkwürdiges Mädchen Sie sind.«
»Wieso?«
»So als hätte man Sie aus Zeit und Raum hinausgeschleudert«, sagte Carol.
1952 veröffentlicht Patricia Highsmith den Klassiker der lesbischen Literatur Carol (aus dem Amerikanischen von Kyra Stromberg) unter dem Titel Salz und sein Preis – und dem Pseudonym Claire Morgan. Erst in einer Neuauflage von 1990 bekannte sich Patricia Highsmith, die vor allem als Autorin von Kriminalromanen bekannt war, zu ihrer einzigen lesbischen Liebesgeschichte – und ging mit dem neuen Titel vielleicht direkt wieder auf Distanz. Carol oder Salz und sein Preis gehört zu den wichtigsten Romanen der lesbischen Literatur. Vielleicht ist es neben Sapphos Liedern sogar der Wichtigste. Der Grund dafür ist einfach: Highsmith hat ihren beiden Protagonistinnen ein glückliches Ende vergönnt.
Der Roman erzählt die Liebesgeschichte von Therese und Carol. Die 19jährige Therese arbeitet während der Weihnachtszeit in der Puppenabteilung von Frankenberg, einem Warenhaus in Manhattan. Hier lernt sie die 12 Jahre ältere und (noch) verheiratete Carol kennen: „Ihre Augen waren von einem durchsichtigen Grau, die aber wie Licht und Feuer alles andere überstrahlten und unwiderstehlich in ihren Bann zogen, und Therese konnte nicht wegsehen.“ Therese fühlt sich von der älteren Frau angezogen, ohne Worte für das zu haben, was sie empfindet. Auf einer prekären Reise – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, weil es keinen Ort auf dieser Welt zu geben scheint, an dem sie ihre Liebe leben können – finden die beiden schließlich zueinander. Zugleich wird die Reise zur Zerreißprobe. Denn Carols Ex-Mann lässt sie von einem Privatdetektiv beschatten, der kompromittierende Tonbandaufnahmen der beiden Frauen macht.
Carol wird und wurde vor allem als Liebesgeschichte gelesen und rezipiert, nicht als eine Geschichte darüber, was es bedeutet, eine lesbische Frau zu sein, über die scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen und Kämpfe, über die gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzungserfahrungen. Und doch liegen diese Dinge wie ein bedrohlicher Schatten über der Liebesgeschichte, zeitweilig eine Atmosphäre heraufbeschwörend, wie man sie aus den Kriminalromanen von Patricia Highsmith kennt.
Die Paranoia der McCarthy-Ära bildet den Hintergrund des Romans. Kommunist*innen, die Verkörperung des Bösen für die amerikanische Politik, werden verfolgt, homosexuelle Menschen werden mit diesen gleichgestellt. Es ist die Zeit der sogenannten ‚Lavender scare‘. Entsprechend grausam geht Carols Ex-Mann im Sorgestreit um die gemeinsame Tochter gegen diese vor. Mit den während der Reise entstandenen Tonbandaufnahmen erpresst er Carol, um diese von ihrer Tochter fernzuhalten. Der Sorgerechtsstreit zieht sich wie ein Riss durch die Beziehung zwischen Therese und Carol. Denn er ist Beweis dafür, dass ihre Liebe in den Augen der Welt etwas Abscheuliches ist. Die noch unerfahrene Therese muss sich fragen, ob sie in solch einer Welt, solch einer Beziehung leben will. Auch Carol muss sich entscheiden: Mutter, Lesbe, würdevolle Person – sind diese Dinge unvereinbar? Ist das der Preis des Salzes?
Carol ist zurecht ein Klassiker, unterscheidet sich in einigen grundlegenden Punkten allerdings von der lesbischen Literatur des Zweiten Welle Feminismus. Die Figuren von Highsmith sind komplex, sie lassen sich nicht in Gut und Schlecht aufteilen, das gilt für ihre Protagonistinnen wie auch für die Männer in ihrem Leben (was nicht bedeuten soll, dass im Roman nicht ausreichend Chauvinisten vorkommen). Auch wenn der Roman glücklich endet, entscheidet sich Carol zunächst weder für ihre Tochter noch für ihre so viel jüngere Freundin Therese – sie entscheidet sich vor allem nicht wider ihre Natur zu leben.
Für Aufmerksamkeit (und Kritik) hat auch immer wieder der Altersunterschied zwischen Therese und Carol gesorgt. Und auch wenn die Dynamik der beiden sich auf ‚die junge Liebende‘ und ‚die ältere Geliebte‘ herunterbrechen lässt, stellt Highsmith mit gewissen Einschüben diesen durchaus bekannten Topos der lesbischen Literatur immer wieder auf den Kopf. Mir scheint aber auch, dass dieser Aspekt eine Besonderheit queerer Beziehung widerspiegelt, in der das Gegenüber mehr als nur die*der Partner*in ist und zur Ersatzfamilie wird.
Therese ist praktisch eine Waise: Der Vater ist früh gestorben, die Mutter hat sie in ein Internat abgeschoben, neu geheiratet und einen Sohn mit ihrem zweiten Ehemann bekommen. Bevor sie Carol kennenlernt, wird Therese als junge Frau auf der Flucht beschrieben – vor sich und den Menschen in ihrem Leben. Carol ändert das: „Denn jetzt war sie glücklich, von diesem Tag an. Sie brauchte weder Eltern noch Heimat.“
Auch in anderen Bereichen wird Therese als eine Frau am Rand der Gesellschaft beschrieben, so dass Carol durchaus den transgressiven Charakter von Highsmith‘ Kriminalromanen erreicht. Denn der Roman stellt die Säulen des amerikanischen Wertesystems der 50er Jahre infrage. Highsmith scheut sich nicht davor, den Kapitalismus als eine schreckliche Maschine darzustellen, welche die Menschen zermalmt und gebrochen und ohne Träume ausspeit. Auch die Kernfamilie gleicht einem Alptraum, einer Falle der Ödnis und der Verbitterung. Therese findet im scheinbaren Abseits mit Carol ihr Glück: „Aber es gab keinen Augenblick, in dem sie nicht Carol in Gedanken vor sich sah, und alles, was sie sah, schien sie mit Carols Augen zu sehen.“
Carol ist Patricia Highsmith zweiter Roman. Nur zwei Jahre zuvor, 1950, erschien ihr Debüt, der Kriminalroman Strangers on a Train (der später von Alfred Hitchcock verfilmt wurde). Auch deswegen rieten ihre Verleger ihr von einer Veröffentlichung ab, man erwartete im Folgeroman etwas Ähnliches, fürchtete, dass sie als Autorin lesbischer Literatur gebrandmarkt würde. Aber auch moralische Bedenken werden der Veröffentlichung im Wege gestanden haben. Denn in 50er Jahren über Homosexualität zu schreiben, bedeutete zwangsläufig auch über ihre Verdammung zu schreiben. Für queere Figuren konnte es kein Happy End geben. Selbstmord, Depressionen, moralische Degeneration – nur mit solch einem Ende konnte offen über Homosexualität geschrieben werden.
Patricia Highsmith hat mit Carol oder Salz und sein Preis einen anderen Weg beschritten. Für viele lesbische Leserinnen war es das erste Buch, in dem sie ihre Lebensrealität wiederfinden konnten. Für andere war es das erste Buch, das ihnen zeigte, dass ein glückliches Leben möglich ist. Auch deswegen ist der Roman ein Klassiker der queeren Literatur. Heute liest sich der Roman dank seiner glatten Prosa überraschend modern. Carol eine Liebesgeschichte, die aber vor allem eines ist: zeitlos.