Wir sind die Coolsten, wenn wir cruisen / Wenn wir durch Darkroom, Autowaschanlage und Skulpturenpark düsen / Wir sind die Coolsten, wenn die süßen / Boys uns mit GHB grüßen
Die Graphic Novel ‚KOMA‘ basiert auf einem Theaterstück von Mazlum Nergiz und wurde von Leonie Ott illustriert. Sie erzählt von einem Mann, der nach dem Tod seines Bruders das Angebot erhält, im Ausland einen Vortrag über ‚autobiografische Täuschungen‘ zu halten. Kurzerhand trennt er sich von seinem Partner und flüchtet in die fremde Stadt, wo er Miller kennenlernt. Ein Skulpturenpark, eine alte Autowaschanlage, der Darkroom einer Schwulenkneipe – gemeinsam suchen sie die Cruisingspots der Stadt auf und verlieren sich in einem Labyrinth aus Anonymität, Intimität und Chemsex.
Der Graphic Novel vorangestellt ist eine titelgebende Strophe Sapphos: „und der ganze Ort liegt / im Schatten von / Rosen, und von den strahlenden Blättern / tropft der Schlaf [kōma]“. Käme man auf die Idee, diese Strophe zu interpretieren, sie wie im Deutschunterricht Wort für Wort zu zerpflücken, entstünde womöglich der Eindruck, sie beschriebe die Cruisingspots, die der namenlose Protagonist von ‚KOMA‘ und Miller gemeinsam aufsuchen. Liegen doch auch diese im Schatten der Schönheit: der Schönheit der Männer, die sich einer Prozession gleich durch sie hindurch bewegen, und der Schönheit ihrer Zärtlichkeiten, die sie endlos miteinander austauschen.
Auch hier tropft der Schlaf von den Blättern. Der Schlaf als das, was uns vom (All)tag trennt, von dem, womit wir uns nicht auseinandersetzen wollen oder können – aber auch der ewige Schlaf. Wie der ewige Schlaf des Mannes, der an einer Überdosis GHB stirbt, und der ewige Schlaf des Bruders, eine Erinnerung, die immer wieder in die Gegenwart einbricht und eine Flucht unmöglich macht.
Mazlum Nergiz und Leonie Ott lassen ihre Leser*innen durch Orte der Widersprüche und der Extreme cruisen. Es sind Orte der Gewalt, der Apathie, aber auch der Gemeinschaft. Anonymität und Intimität schließen einander nicht aus, genauso wenig wie Zärtlichkeit und Erniedrigung. Ein beinahe utopisches Potenzial tut sich an diesen Orten auf, hier, wo an einem ruhigen Abend die Männer lieber gemeinsam den Müll einsammeln und nicht ihrem Begehren nachgehen: „Miller hängt an allem hier. An den Männern, den Bäumen, dem Müll.“
Doch ‚KOMA‘ ist wie bereits angedeutet auch eine Geschichte der autobiographischen Täuschungen. Denn wenn wir dem Protagonisten auf seinen Streifzügen folgen, erfahren wir von den Märchen Millers, von einem an AIDS erkrankten Filmregisseur (der an Derek Jarman erinnert), von dem jungen N. und einer rotäugigen Motte – doch erstaunlich wenig über den Mann selbst, der seinen Bruder verloren hat. Wir Leser*innen sind einem Schlafwandel gleich gezwungen, ihm zu folgen und seine (auto)biografischen Täuschungen zu bezeugen, ähnlich wie es auch Teju Cole in ‚Open City‘ und W.G. Sebald in ‚Austerlitz‘ getan haben.
Leonie Ott schafft es, mit ihren unverwechselbaren Bildern die Grenzerfahrungen zwischen Lust und Verzweiflung einzufangen, und beschwört einen Drogentrip herauf, der Ekstase verspricht, aber jederzeit in eine andere Richtung zu kippen droht. Noch eine Menge ließe sich über ‚Koma‘ von Mazlum Nergiz und Leonie Ott sagen. Doch wie die besten Grenzerfahrung lässt sich die Graphic Novel nur unzureichend beschreiben – sie muss selbst erlebt werden.