Maurizio Fiorino – K.O.

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Auf einmal konnte ich sehen, wie ich einmal werden würde – ein Mensch, der die Dinge, die er liebt, nur aus der Ferne, durch ein Schlüsselloch, betrachtet, ohne ihnen jemals nahekommen zu können.

Maurizio Fiorino kombiniert in ‚K.O.‘ (aus dem Italienischen von Christiane Burkardt) zahlreiche Themen, die man aus der Gegenwartsliteratur kennt: Queerness, Armut, toxische Männlichkeit und auch das Leben auf dem Land. Der Roman erzählt eine Geschichte wie man sie beispielsweise aus ‚Das Ende von Eddy‘ und ‚Young Mungo‘ kennt – und doch ist es ein Text, der sich grundlegend von diesen unterscheidet.

Handlungsort in ‚K.O.‘ ist nicht die französische Picardie oder die Arbeitsviertel in Glasgow, sondern das archaische Süditalien, das kleine Dorf Bagnamurata, „ein Fleckchen Erde, das weder am Meer noch im Hinterland lag. Es sah aus, als wäre es zwischen zwei Bergen stecken geblieben.“ Hier lebt in den 1980er Jahren Biago, der Sohn des Dorfmetzger, denn „einzigen zärtlichen Momente toten Tieren vorbehalten waren“, wenn er voller Anmut die Klinge in das Fleisch der toten Tiere rammt. Was den Roman von den oben genannten Texten unterscheidet, ist, dass ihn jeglicher erlösende Moment fehlt.

Vergleichbare Geschichten zeigen (fast) immer, wie ihre Figuren in irgendeiner Form aus der Gewalt und dem Elend gerettet werden. Oft ist dieses rettende Element Teil dessen, was sie zum Außenseiter macht, ist intrinsisch damit verbunden – sei es ein besonderes Talent oder auch die rettende Kraft der Liebe. Anders gesagt: Queerness ist es, was diese Figuren zu Außenseitern macht, aber auch das, was sie rettet. Auf Fiorinos Protagonisten Biago trifft all das nicht zu.

Biago wächst im Schatten seines Vaters auf, der lachend die Kehlen von Kälbern und Schweinen durchschneidet, der für seine Gefühle keine Sprache hat. Er ist empathischer, sanfter und – wie er in seiner Jugend erkennen muss – schwul. Und doch ist er auch der Sohn seines Vaters: „Als ich mich eines Morgens im Spiegel sah, merkte ich, dass ich gewachsen war, aber auch dass ich genauso hässlich wurde wie mein Vater, dass diese Hässlichkeit das Einzige war, das uns miteinander verband.“ Biago mag ein Außenseiter sein, doch er unterscheidet sich nicht auf die Art, die ihn retten könnte, er ist sozusagen zu sehr von der ihn umgebenden Hässlichkeit gebrandmarkt.

Auch in der Schule tut Biago sich nicht durch Fleiß und Disziplin hervor, wie es Édouard Louis in seinen Romanen geschildert hat: „In der Schule, die ich dieses Jahr noch besuchen musste, konnte ich mich nicht konzentrieren. Erdkunde war ein einziges Durcheinander aus Karten und Farben, für die ich keine Namen hatte. Geschichte eine lange Reise, die nirgendwohin führte.

Dann die Grammatik- und Matheregeln, selbst die einfachsten: unverständliche Sprachen. Ich begriff nicht, warum ich sie lernen sollte.“ Er leidet an einer ‚kognitiven Störung‘, wie sein Vater ihm eines Tages enttäuscht und kalt offenbart. Eine der wenigen Dinge, für die sich Biago begeistern kann, ist die Geschichte der griechischen Antike. Sie spendet ihm Trost, das Wissen, dass die griechischen Götter die gleiche Landschaft wie er durchwandert haben. Doch selbst diese Natur ist voller Ambivalenzen. Denn so wie sie Trost spenden kann, kann sie über ihre Bewohner*innen genauso Gewalt und Zerstörung bringen.

Voller Ambivalenzen ist auch Biagos Verhältnis zur eigenen Sexualität. Im Dorf gibt es nur einen wie ihn, Vittorio, „ein Mann, der sich anzog wie eine Frau.“ Die Dorfbewohner*innen sehen in ihm einen Perversen, der die Jungen dafür bezahlt, dass er ihnen zwischen die Beine greifen darf. Biago fühlt sich von Vittorio zugleich angezogen und abgestoßen, die Quintessenz seines homosexuellen Begehrens.

Die Sprache in ‚K.O.‘ einfach und zurückgenommen und verläuft doch – auch hinsichtlich seiner Erkenntnisse und Beobachtungen – diametral zu Biagos ‚kognitiver Störung‘. Es ist eine Kluft, an der man sich beim Lesen reiben kann, eine Kluft, ohne die der Roman allerdings auch nicht funktionieren würde. Was man dem Roman allerdings nicht vorwerfen kann, ist dass er sich im Leid seines Protagonisten und Erzählers suhlen würde. ‚K.O.‘ mag von einer trostlosen, niederschmetternden und hässlichen Welt berichten, doch die treibende Kraft des Romans und seines Erzählers ist eine andere. ‚K.O.‘ erzählt vom Streben nach einer „Vorstellung von Glück“ – selbst dann, wenn dieses nur für einen kurzen Moment anhalten sollte.

Maurizio Fiorino wurde 1984 in Süditalien in Crotone geboren, von wo er „[n]ach einer turbulenten Kindheit“ nach Bologna gezogen ist – was dafürspricht, dass ‚K.O.‘ weder autobiografisch noch autofiktional, sicherlich aber durch die eigene Biografie geprägt ist. Ähnlich wie Pier Vittorio Tondelli hat Fiorino in Bologna Kunst, Musik und Theater studiert. Neben seiner journalistischen und schriftstellerischen Arbeit hat er auch in verschiedenen amerikanischen Galerien ausgestellt. Von seinen insgesamt vier Romanen ist ‚K.O.‘ der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde.

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