„Die Kunst Tiepolos und der anderen großen Venezianer wird länger Bestand haben als ihre, wer auch immer sie war. Der Geist der klassischen Kunst ist zeitlos, und Tiepolo war der letzte wahrhaft klassische Künstler, das letzte Glied einer goldenen Kette. Wenn das seine Kollegen nur begreifen würden. Doch in seinem Fachbereich sind viele Anhänger der Philosophie der 1970er – sie haben den Apfel vom Baum der Kulturtheorie gegessen. Für Don besteht die Rolle des Kunsthistorikers darin, Schönheit in ihre Bestandteile zu destillieren. Es ist lange her, dass er über Fragen der Gesellschaft, Politik oder Psychologie nachgedacht hat – modische Irrelevanzen. Er schreibt stattdessen über grundlegende Dinge: Form, Proportion, Licht, Ausgewogenheit.“
1994: Don Lamb ist Professor für Kunstgeschichte in Cambridge, wo er akribisch das Himmelreich der Fresken des venezianischen Malers Tiepolo, den Letzten der alten Meister, den Ersten der Modernen, als ein Kompendium klassischer Regeln deutet. Als er, konfrontiert mit dem ganz und gar modernen Kunstwerk LOTTERBETT der Schwarzen Künstlerin Angela Cannon, einen Skandal provoziert, sieht er sich gezwungen, in die Welt hinauszugehen. Als Direktor der Brockwell Collection lernt er ein Leben kennen, das mehr verspricht als Form, Proportion und Licht. Doch dort, wo die Verheißung wartet, ist der Fall umso tiefer, das Verderben umso wahrscheinlicher.
James Cahills Debütroman ‚Tiepolo Blau‘ (aus dem Englischen von Joachim Bartholomae) ist ein historischer Roman, eine akademische Komödie, unter welcher der schwule bzw. queere Klassiker ‚Der Tod in Venedig‘ von Thomas Mann wie eine Schablone liegt. Auch in der 30 Jahre zurückliegenden Vergangenheit wirkt Protagonist Don Lamb jedoch wie aus der Zeit gefallen. Bereits als junger Mann hat er, in einem Versuch sich der Homophobie der ihn umgebenden Welt zu entziehen, voll und ganz der Kunst verschrieben und führt ein asketisches Leben ohne Sex und ohne Liebe. Dabei hat er sich so sehr vom Leben entfernt, dass er in gewisser Weise aufgehört hat, Mensch zu sein. Don Lamb ist die Verkörperung einer Idee, die sich mit aller Macht dagegen wehrt, dass sich in diesem von ihm selbst errichteten Elfenbeinturm etwas ändert oder dieser gar zum Einsturz gebracht wird. Diese Entfremdung geht so weit, dass er nichts von dem mitbekommt, was in der Welt um ihn herum geschieht. Sei es die Belagerung Sarajevos, die Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder der Regierung von Premierminister John Major oder auch die noch wütende AIDS Epidemie.
In London kann Don sich nicht mehr hinter den steinernen Mauern von Cambridge verschanzen, er wird mit all den verpassten Gelegenheit seines Lebens konfrontiert, mit all dem, was er sich selbst versagt hat. Als er den jungen Künstler Ben kennenlernt, verfällt er diesem wie einst Aschenbach seinem Tadzio erlegen ist. Diese Liebesgeschichte macht den zweiten Teil des fast 450 Seiten starken Romans aus, der für mein Empfinden auch mehr Zugkraft besitzt. Doch auch bereits der erste Teil bietet eine Anhäufung urkomischer (und mindestens genau unangenehmer Szenen), welche allen, die sich zumindest etwas in der akademischen Welt auskennen, seltsam vertraut vorkommen werden.
Natürlich übertreibt ‚Tiepolo Blau‘ maßlos in seiner Darstellung von Dons Kunstverständnis. Doch in der Übertreibung reflektiert der Roman die verschiedenen Kunstverständnisse, indem der Text „das Leben durch das Brennglas der Allegorie in höhere Formen“ übersetzt. Kunst greift auf, „was in der Welt geschieht, und wiederholt es, verwendet es auf ihre Art und wirft es dann zurück. Und sie bringt uns dazu, zu hinterfragen, was wir wissen und was wir glauben. Zum Teufel mit der Würde, Kunst destabilisiert. Ich meine, was ist denn überhaupt gut und wahr?“
Wer Thomas Manns ‚Der Tod in Venedig‘ gelesen hat, weiß, wie Aschenbach sich in seinem Begehren selbst erniedrigt und auf welches Ende ihn dieses zuführt. Es ist ein Ende, das – ohne zu viel vorwegzunehmen, denn es ist unvermeidlich, sobald klar ist, in welcher Tradition der Text sich versteht – wie sein Protagonist aus der Zeit gefallen wirkt. Doch der Text und sein Ende machen Sinn, wenn man bedenkt, dass es keine ‚wirkliche‘ Person ist, die hier auf ihr Verderben zu rennt, sondern jemand, der sein Leben vollkommen einer Idee verschrieben hat und sich dabei von allem Menschlichen entfernt hat. In diesem Sinne ist Don Lamb selbst nicht viel mehr als eine Idee, die zum Scheitern verurteilt ist.
James Cahill hat mit diesem Roman zum einem eine Komödie über die emotionale Kühle der Briten geschrieben, zum anderen aber auch eine Antwort auf die Frage gegeben, was passiert, wenn sich das Verständnis von Kunst allzu weit von allem Menschlichen entfernt. Und natürlich ist ‚Tiepolo Blau‘ mehr als, es ist ein Text, der seine zu entziffernden Zeichen, für jene, die zu suchen und zu forschen gewillt sind, jenseits der heiteren Szenen verbirgt.
Zur Inszenierung: Zu sehen sind zwei Fotografien von Robert Mapplethorpe aus ‚Die Photographien 1969 – 1989‘.