Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs

Gerbrand Bakker - Der Sohn des Friseurs

Schneiden und rasieren, essen und trinken, schwimmen. Toter, unbekannter Vater, leicht hysterische Mutter. Nie einen festen Freund gehabt. Vielleicht allzu einfach eine Arbeit gefunden, sie ist ihm in den Schoß gefallen. Natürlich war er auf der Friseurfachschule, aber wollte er Friseur werden?

Bei Simons Friseursalon hängt öfter das Schild mit ‚Geschlossen‘ als ‚Geöffnet‘ in der Tür, auf Kunden und Gespräche kann er gut und gerne verzichten – auch wenn die Kunden in den meisten Fällen zu erzählen beginnen, ohne, dass er fragt. Wieso ist er dann überhaupt Friseur geworden? Bereits sein Großvater und sein Vater waren Friseure, vermutlich ist er einfach den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Doch sein ereignisloses und routiniertes Leben gerät durcheinander, als innerhalb kürzester Zeit zwei Dinge geschehen: seine Mutter bittet ihn um einen Gefallen und ein Schriftsteller betritt seinen Laden.

Bei dem Schriftsteller handelt es sich um eine kaum verschleierte und fiktionalisierte Version von Gerbrand Bakker, dem Autor des vorliegenden Buchs ‚Der Sohn des Friseurs‘ (aus dem Niederländischen von Andreas Ecke). Nicht zuletzt daran zu erkennen, dass er anstelle von ‚Oben ist es still‘ ‚Unten ist es kühl‘ geschrieben hat „über eine Tochter, die eines Tages ihre Mutter in den Keller schafft, weil sie sie nicht mehr erträgt“. Obwohl Simon sich nicht für Geschichten interessiert, hat er alle Romane des Schriftstellers gelesen – der Stammkunde hat sie ihm alle geschenkt. Doch am erstaunlichsten ist, dass Simon sich nicht für seine eigene Geschichte interessiert. Am 27. März 1977 ist sein Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Wieso der Vater überhaupt in dieser Maschine saß, das weiß keiner in der Familie. Niemand spricht darüber und Simon hat auch nie nachgefragt: „Er hat diese ganze Vatergeschichte immer seiner Mutter überlassen, sie gehörte ihr. Sie hatte das Monopol darauf. Es war ihre Katastrophe, ihr Schmerz, es waren ihre Erinnerungen.“

Der Schriftsteller, der eigentlich mehr über den Alltag von Simon für einen neuen Roman erfahren will, beginnt sich – wie auch langsam Simon selbst – für die Geschichte des Vaters zu interessieren, und verkündet, darüber zu schreiben. Darf er das? Wem gehört eine Geschichte? Und gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen dem, was der Schriftsteller schreibt, und den wenigen Informationen, die Simon von seinem Vater hat? Sind es nicht alles Geschichten aus zweiter Hand?

Der Sohn des Friseurs‘ verhandelt diese Frage auch auf anderer Ebene. Simons Mutter gibt Schwimmstunden für geistig behinderte Jugendliche, wo Simon kurzerhand für die auf die Kanaren geflüchtete Henny einspringt. Sein Blick fällt auf den 17jährigen Igor, der ihn an den russischen Olympiaschwimmer Alexander Popow erinnert, dessen Poster aus Simons Jugend noch immer an seiner Schlafzimmerwand hängen. Die Faszination, die Simon für den stillen Jungen entwickelt, scheint sich in eine unheilvolle und bedrohliche Richtung zu entwickeln. Denn auch Simon beginnt in Igor eine leere Hülle zu sehen, in die er all die nicht ausgelebten Fantasien seiner Jugend zu projizieren beginnt, eine Geschichte, die er nach seinem Willen formen kann.

Als Leser*in sieht man sich mit einer ähnlichen Frage konfrontiert. Simon ist Mitte 40, schwul und Single, ansonsten bleibt er seltsam gestaltlos. Seine Mutter beschreibt ihn als indolent. Mögliche Synonyme: „Apathisch. Bräsig. Desinteressiert. Dickfellig. Energielos. Faul. Gefühlskalt. Gleichgültig. Kraftlos. Lethargisch. Lustlos. Passiv. Phlegmatisch. Schwerfällig. Teilnahmslos. Träge. Unbeweglich. Unempfänglich. Unsensibel. Willenlos.“ Ist nicht auch Simon ein Avatar, über den Leser*innen den Roman wahrnehmen und interpretieren?

Auch der neuste Roman des niederländischen Kultautors Gerbrand Bakker ‚Der Sohn des Friseurs‘ ist ruhig und unaufgeregt erzählt und entwickelt doch einen ganz eigenen Sog, der einen nicht mehr loslässt. Auf den ersten Blick sehr direkt, ist die Geschichte doch clever konstruiert und offenbart erst ganz zum Schluss die einzelnen Puzzleteile, aus denen sie zusammengesetzt ist.

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