‚Wir Propagandisten‘ ist der Debütroman von Gabriel Wolkenfeld. Ursprünglich bereits 2015 im Männerschwarm erschienen, wurde der Roman nun mit einem ausführlichen Nachwort des Autors beim Albino Verlag neu aufgelegt. Denn nicht erst seitdem der oberste Gerichtshof in Russland die LGBTQ+ Bewegung als „extremistisch“ eingestuft hat, zeichnet sich der Roman durch eine traurige Aktualität aus.
Auf uns, Jekaterinburg, ein Jahr: Das Studium mit den Prüfungen, überfüllten Hörsälen und den Zweifeln über eine unwirtschaftliche Zukunft ist vorbei. Also entschließt sich der junge Erzähler 2012 ein Jahr an der Universität in Jekaterinburg Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, hier, wo einst die Zarenfamilie hingerichtet wurde. Das Ziel: Eine Verschnaufpause, sich nicht unter Druck zu setzen und das Unterrichten nicht neu zu erfinden. Doch, was der Erzähler stattdessen findet, ist allzu menschlich: Da wären Mischa, der sanfte Riese, Ljoscha, Bruder im Geiste, Ministerpräsident Mitja, der stille Schurik, Borja, der widerspenstige Rustam, Tolik, den er liebt, ganz flüchtig, zwischen Frühstück und Hausflur, sein verehrter Mateusz, Goscha, der aufsässige Hüne. Und nicht zu vergessen: Nastja, Kostja und Sina.
In mehrerlei Hinsicht wird Wolkenfelds Protagonist auf sich selbst zurückgeworfen, der bürokratische Wahnsinn an der Universität gleicht einem Roman von Kafka: „Du glaubst, eine Abkürzung nehmen zu können, und landest irgendwo, nicht unbedingt vor einer geschlossenen Tür, kaum jedoch dort, wo du hinwillst. Usbekische Putzfrauen, ohne dich zu bemerken, kehren dich fort.“ Ganz nebenbei ist ‚Wir Propagandisten‘ auch ein Campus-Roman, der die prekäre Situation der Unterrichtenden zeigt, aber auch die Gleichgültigkeit, die teilweise unter den Studierenden herrscht im Angesicht der politischen Situation. Unaufgeregt und doch effektiv zeigt Wolkenfeld, wie ein Land seine Bildungselite verprellt und in die Flucht treibt. Irgendwann gleicht trotz seines Status als Ausländer auch für den Protagonisten der bürokratische Spießroutenlauf einem Akt der Selbsterniedrigung, denn an die Aufenthaltsgenehmigung gebunden ist ein negativer HIV-Test. Mit im Gepäck sind also altbekannte Ängste und Sorgen.
Doch Wolkenfeld lässt auch Platz für Hoffnung und Zuversicht, indem er das im Verborgenen stattfindende queere Nachtleben zeigt: „Wir schlüpfen in ein Loch, das uns hineinkatapultiert in ein paralleles Universum, wo Küsse im öffentlichen Raum möglich sind, wo niemand mit Steinen schmeißt und Worte nicht treffen. Ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum, wo sich ein Leben ausprobieren lässt.“ Hier lernt er sich und seinen Körper neu kennen, er lernt endlich zu tanzen. Denn er versteht, dass nichts davon mit ihm zu tun hat.
Diese Erkenntnis gewinnt eine politische Dimension, als seine neuen Freunde von Gerüchten berichten, dass der oberste Gerichtshof ein Gesetz verabschieden wird, welches Homosexualität wieder unter Strafe stellt. Auf Seiten des Erzählers überwiegt ursprünglich Unglaube, der naive Glaube an den Einfluss Europas, was soll schon groß geschehen, und vielleicht auch der Unwille sich in der Fremde mit den Problemen anderer zu beschäftigen. Später sieht er sich mit der Frage konfrontiert, ob er nicht falsche Ansprüche an seine Umgebung stellt und ob, wenn er sich einbringt, er nicht ein Minenfeld hinterlässt, welches er im Gegensatz zu den anderen dank seines deutschen Passes nur zu leicht manövrieren kann. All das zeigt Wolkenfeld ohne erhobenen Finger und ohne einfache Antworten zu geben.
‚Wir Propagandisten‘ basiert auf einem Tagebuch, das der Autor geführt hat, als er selbst für ein Jahr in Russland gelebt hat. Und das merkt man dem Roman auch an, besteht er doch aus vielen kleinen Szenen, die teilweise auf den ersten Blick nur wenig mit dem großen Ganzen der Geschichte zu tun. Gabriel Wolkenfeld hat eine Mischung aus Campus-Roman, politischen Roman und auch Coming-of-Age Geschichte geschrieben. Dass diese Mischung so mühelos funktioniert, liegt auch an diesen kleinen Momenten, die den Roman, in dem sich Humor und Verzweiflung, das Banale und das Politische die Hand geben, so lebendig machen. In seinem Nachwort schreibt Wolkenfeld, dass er in seinem Roman ein Russland beschreibt, dass so nicht mehr existiert. Das mag stimmen, doch – auch auf die Gefahr hin mit dem Pathoshammer auszuholen und mich zu wiederholen – ‚Wir Propagandisten‘ hat weniger das Land als die Menschen, die in ihm wohnen, auf seiner Agenda. Und was ist Literatur ohne den Menschen wert? Richtig, nichts. Und ‚Wir Propagandisten‘ ist voll von ihnen. Naiv, klug, offen, vorurteilsbeladen und wundervoll fehlbar.