Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht

Franziska Gänsler - Wie Inseln im Licht

Wenn ich an Oda denke, dann liegt der Schmerz der Mutter wie ein Filter zwischen mir und meiner Erinnerung. Ihr Blick, der leer wurde und davonglitt, von dem ich wusste, auf welche Stunden er sich richtete: auf den Campingplatz, auf den kleinen warmen Körper meiner Schwester in unserer Mitte. Wir sprachen nicht von ihr. Aber ich hörte meine Mutter oft nachts, wenn ich im anderen Zimmer lag. Hörte sie murmeln, hörte ihre offenen Fragen, hörte sie durch die dünne Wand.

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Zoey zurück an den Anfang: Als Kind hat sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Oda auf einem Campingplatz an der französischen Atlantikküste gelebt. Dann ist Oda eines Tages spurlos verschwunden. Was ist passiert? Warum wurde nie nach der Schwester gesucht? Und warum hat sich die Mutter all die Jahre bis in den Tod hinein in Schweigen gehüllt?

In ihren zweiten Roman ‚Wie Inseln im Licht‘ beschreibt Franziska Gänsler die Suche einer jungen Frau. Die Suche nach ihrer Schwester, die Suche nach fragmentarischen Erinnerungen und die Suche nach einer Wahrheit, welche die unsichtbare Last erklärt, die sie all die Jahre mit sich getragen hat.

Drei Jahre hat Zoey ihre sterbende Mutter in der Berliner Dachwohnung gepflegt. Damals im Wohnwagen in Frankreich waren sie der innerste Kern der Welt, umgeben von einer Wand aus Fremden, die sie vom Rest der Welt trennte. Doch auch wenn sie weiterhin den gleichen Raum teilten, ist ihr das Leben der Mutter ein Rätsel, es ist „ein Text, in dem seitenweise geschwärzt worden war, was sie nicht ertrug. Das Lesbare, das Erträgliche, war die immer gleiche Zeile: sie und ich in der Dachwohnung. […] Wenn ich nach den schwarzen Balken in ihrer Biografie fragte, wenn ich ihr Abwinken nicht hinnahm, dann entzog sie sich mir, und nichts fühlte sich schlimmer an, als wenn ihr Blick gegen mich hart wurde“.

Nach all diesen Jahren taucht Zoey aus den Tiefen der Isolation auf, bricht durch die Wassermembran, die sie von Welt trennt, und findet diese verändert vor: „Alles, was ich gleißend und klar geglaubt hatte, plötzlich im Schatten.“ Sie versucht auszuloten, „wo in diesen Wellen aus Leugnung, Wut, Depression, Verhandeln und Akzeptanz“ sie treibt, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen. Bei ihrer Suche stößt sie auf Mme Future, eine alte Frau, die in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz lebt und mit Hilfe ihrer Enkelin auf Instagram aus Teeblättern das Schicksal der Menschen liest. So wie Zoeys Erinnerungen an die damaligen Ereignisse gleicht auch ihre Suche nach dem Verbleib ihrer Schwester einem Fiebertraum, dabei gelingt es Gänsler jedoch hervorragend, anhand der Schauplätze und der Charaktere die Skurrilität des Ganzen heraufzubeschwören, gibt dabei die Figuren jedoch nicht der Lächerlichkeit preis, sondern stellt immer wieder ihre Menschlichkeit in den Vordergrund. Zoeys Sexualität ist vielleicht auch deswegen so selbstverständlich wie nebensächlich, Gänsler lässt sich erst gar nicht dazu herab, die Beziehung ihrer Protagonistin zu einer Frau zu erklären oder zu rechtfertigen. Sie ist eine Tatsache.

Die einzigen Hinweise, die Zoey auf das Verschwinden ihrer Schwester hat, sind ihre fragmentarischen Erinnerungen. Doch auch sie weiß, dass diese formbar sind – und zugleich nicht greifbar. Ihre Erinnerungen haben keinen Körper, der befragt oder als Beweis herhalten kann. Der Roman zeigt, was mit einer Person passiert, dessen Erinnerungen und dessen Leben an ein paar wenige Menschen gebunden ist, die ihr keinerlei Bestätigung mehr geben können für die Bilder, die sie heimsuchen.

Gänsler offenbart Zoeys Suche und Gefühlswelt auch durch die Augen der Kunst wie durch die Referenz auf Munchs stummen und oft wiederholten Schrei und die darauf referierenden Videoarbeiten von Tracey Emin: „Dieser Schrei ist eine Hand, die sich nach ihm ausstreckt, nach Munch, und versucht, ihn zu greifen, durch Raum und Zeit, ihn und alle, die etwas verloren haben.“ ‚Wie Inseln im Licht‘ entfesselt ähnlich einem Krimi sehr schnell einen Sog, dem mensch sich kaum entziehen kann, auch wenn so ruhig daherkommt, wie die Tiefen des Wassers, in denen Zoey abtaucht.

Was Gänslers Prosa so erstaunlich macht, ist dass hier alles passt. Jedes Wort und jeder Satz harmonieren mit den vorherigen und nachfolgenden, ohne dass der Text deswegen konstruiert werden würde. Tatsächlich geht Gänsler so behutsam mit Sprache um, dass es leicht ist zu vergessen, dass es das ist, womit mensch es zu tun hat. Und auch deswegen ist es so leicht, sich in Zoeys Geschichte und Erinnerungen zu verlieren, die Materialität des gemachten Textes zu vergessen, dessen Bilder sich einem Fiebertraum gleich und wie Inseln im Licht vor dem inneren Auge auftun.

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