Der Paragraph 175 und die Literatur, die es nicht gibt

Der Paragraph 175 und die Literatur, die es nicht gibt

An amerikanischen Universitäten wird in Grenzbereichen durchaus so etwas wie ein schwuler oder queerer Kanon gelehrt. Dieser orientiert sich größtenteils an Epochen wie der Stonewall Bewegung, der AIDS Epidemie und der anhaltenden Liberalisierung. Queere Literatur ist also immer in irgendeiner Form auch politisch. Mit diesem Kanon geht nur ein Problem einher: Er ist zutiefst amerikanisch und lässt sich nicht auf alle Lebensrealitäten übertragen. Eine dieser Realitäten ist der Paragraph 175.

In Atemschaukel erzählt Herta Müller von der Deportation der Deutsch-Rumänen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (übrigens aus Sicht eines schwulen Charakters). Begleitet haben Herta Müller die Erzählungen über diesen – lange Zeit in Vergessenheit geratenen – Teil der Geschichte seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter war selbst eine dieser Deportierten. Damals wurde jedoch nur über vorgehaltener Hand darüber gesprochen. Zu groß war die Scham. Um dem Vergessen entgegenzuwirken und den Betroffenen eine Stimme zu geben, begann Müller die Geschichten ihres Dorfes zu sammeln. Atemschaukel hat nicht nur den Literaturnobelpreis gewonnen, sondern auch das ursprüngliche Ziel erreicht: Die lange Verstummten wurden endlich gehört.

Wieso sammelt niemand die Geschichten der Opfer des Paragraphen 175? Warum gibt es keine literarische Aufarbeitung? Ich spreche nicht von Fachliteratur oder von Zahlen und Fakten, denn diese gibt es ja durchaus. Ich spreche von der Kraft des Erzählenden. Ich möchte Literatur, die meine Wut bestätigt, die mir meine eigene Geschichte erzählt und die aus den Opfern mehr als nur Fakten macht. Ich möchte ihre Stimmen hören und darin erkennen, wie ihnen ihre Würde anerkannt wird.

Im Fall von Atemschaukel hat eine Tochter erzählt. Kinder von Homosexuellen, das gibt es natürlich, doch oft wandert dieses Geheimnis mit ins Grab oder ist mit solcher Scham belegt, dass auch lieber die Kinder schweigen. Seit dem 1. Oktober 2017 dürfen Schwule und Lesben nun offiziell auch heiraten – und Kinder adoptieren. Die heutige junge Generation von Schwulen wird bestimmt Kinder haben, die von ihnen erzählen werden. Doch im Zuge der Liberalisierung und des gesellschaftlichen Wandels werden dies mit Sicherheit vollkommen andere Geschichten sein. Wer noch von der Zeit vor der Gesetzesänderung geprägt ist, ist oft zu alt, um zu adoptieren oder hat sich ein Leben eingerichtet, in dem für Kinder kein Patz ist (und natürlich gibt es auch völlig unabhängig von der Gesetzesänderung das völlig legitime Verlangen, ein kinderloses Leben zu führen). Wenn vom Paragraph 175 erzählt werden soll, muss ein anderer und oft zynisch belächelter Begriff von Familie her: die Community. Wie so oft müssen wir unsere Geschichten selbst erzählen. Aber wieso tun wir das nicht? 5000 Betroffene, so schätzt das Bundesjustizministerium, leben derzeit noch in Deutschland. Ist man zynisch, kann man einfach sagen, dass es keinen rentablen Markt gibt, um anspruchsvolle Literatur zu solch einem Thema zu verlegen. Vor allem da schwule Literatur bekanntlich nur von Schwulen gelesen wird. Dem armen Literaturkritiker Dennis Scheck hat es ja sehr lange davor gegraut Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust zu lesen, weil es „zu schwul“ sein könnte. Nicht vorzustellen, was passieren würde, wäre die fragile Heterosexualität unserer Literaturkritiker derart offensichtlich mit so etwas Fremden konfrontiert. Dann doch lieber Bücher vor der Kamera auf den Boden schmeißen, die einem nicht gefallen.

Und man könnte vielleicht auch meinen, dass dem Thema genug Aufmerksamkeit mit der Rehabilitierung der Opfer gewidmet wurde. Nach einem Gesetzesentschluss vom 17. März 2017 erhalten diese Männer 3000 Euro Entschädigung plus 1500 Euro für jedes begonnene Jahr, in dem sie ihrer Freiheit beraubt wurden. Heutzutage erhalten in Deutschland zu Unrecht Verurteilte für ein volles Jahr 9100 Haftentschädigung. Und auf Drängen der CDU wurden nur jene Verurteilte berücksichtigt, die das 16. Lebensjahr erreicht hatten – obwohl das Alter für einvernehmlichen Sex unter Heterosexuellen damals 14 Jahre war. Reicht solch ein Gesetzesentschluss aus, um die Opfer zu rehabilitieren? Um ihnen ihre Würde zurückzugeben? Ist das genug Aufmerksamkeit? Es gibt einen Grund, warum manche Menschenleben für betrauernswert gelten und andere nicht.

Wenn wir vom Paragraph 175 sprechen, denken die meisten an gesellschaftliche Ausgrenzung. Nur die wenigsten wissen, dass zwischen 5000 und 6000 homosexuelle Männer während des Nazi-Regimes in Konzentrationslager verschleppt wurden. Ungefähr 40 Prozent von ihnen haben überlebt. Im Gegensatz zu den restlichen Gefangenen wurden sie nicht von den Alliierten befreit – der Paragraph 175 war weiterhin rechtskräftig und die Überlebenden wanderten vom Konzentrationslager ins Gefängnis, wo sie ihre restliche Haftzeit verbrachten. Ich, deportiert und vergessen (treffender kann ich mir einen Titel nicht vorstellen) von Pierre Seel erzählt eine dieser Geschichten. In Vergessenheit geraten ist wohl auch das Buch.

Noch zwischen 1950 und 1969 kam es zu 100000 Ermittlungsverfahren und ungefähr 50000 Verurteilungen. Infolge der Frankfurter Prozesse zwischen 1950 und 1951, in denen die Justiz verstärkt gegen Homosexuelle vorging, nahmen sich sechs Männer das Leben. Unter ihnen ein 18jähriger, der lieber in den Tod sprang als mit dem Stigma zu leben. Erst 2004 wurde das letzte Opfer des Paragraphen 175 nach 10 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Das Gericht verurteilte ihn nur wenige Monate bevor der Paragraph aufgehoben wurde. Während der 10 Jahre wurden jegliche Revisionsgesucht abgelehnt.

Forscht man ein bisschen im Internet, stößt man auf einige Artikel, in denen Einzelschicksale von Verfolgten geschildert werden. Und diese berichten immer wieder vom Unwillen ihrer Freunde und Bekannten, die das gleiche Schicksal teilen, sich zum Thema zu äußern. Wieder ist diese verdammte Scham zu mächtig, zu überwältigend. Vielleicht haben die Betroffenen zu lange im Stillen gelebt, um jetzt noch ihre Stimmen aus eigener Kraft zu erheben. Denn oft waren es die eigenen Nachbarn oder sogar die eigene Familie, die einen bei den Behörden verraten haben. Man lernt sich zu verstecken und lieber zu schweigen.

Sehr viel Zeit bleibt wahrscheinlich nicht, um die Stimmen der verbliebenen 5000 Opfer des Paragraphen 175 zu hören. 1969 wurde das Totalverbot homosexueller Handlungen aufgehoben. Das sind beinahe 50 Jahre. Doch egal wie viel Zeit auch vergangen sein mag, egal wie sehr sich die Werte unserer Gesellschaft auch gewandelt haben mögen, wir werden für immer in einer Gesellschaft leben, in der der Paragraph 175 existiert hat und existieren konnte. Und das sollte erzählt werden.

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