David Wojnarowicz – Close to the Knives: Memoiren der Desintegration

David Wojnarowicz - Close to the Knives: Memoiren der Desintegration

David Wojnarowicz (1954-1992) war Künstler, Aktivist und Schriftsteller. Close to the Knives, seine Memoiren der Desintegration (aus dem Amerikanischen von Stefan Ernsting) lassen sich formal wie inhaltlich nur schwer fassen. Das Buch verwehrt sich dem klassischen Narrativ von Memoiren, ist assoziativ und ist eine Mischung aus Autobiographie, politischem Manifest, Essay und schriftlicher Performance. Close to the Knives ist vorrangig aber eins: Die Stimme eines Mannes, der sich erhebt, und gegen all jene anschreibt, die ihn und die seinen zum Schweigen bringen wollen.

Den Untertitel Memoiren der Desintegration beschreibt Olivia Laing im Vorwort der englischsprachigen Originalausgabe als eine Anspielung auf „both its chopped-up nature, collage structure and to the landscape it maps: a place of loss and danger, of transient beauty and dogged resistance.“ Denn Wojnarowicz beschreibt ein Land bevölkert von Queers, Obdachlosen, Sexarbeiter*innen, Kriminellen und Junkies – eine Welt, die in den Augen der Öffentlichkeit nicht existiert, nicht existieren darf und deswegen zum Schweigen gebracht werden muss.

Wojnarowicz lebt selbst eine Zeit lang auf der Straße, nachdem er als Jugendlicher aus seinem gewalttätigen Elternhaus geflüchtet ist. Um zu überleben, muss er seinen Körper an Pädophile und Freier verkaufen. Die Straße ist ein Ort der Gewalt, ein Ort, an den Wojnarowicz allerdings immer wieder zurückkehrt, der seine Kunst und seinen Aktivismus inspiriert und an dem er seine Sexualität auslebt. Es ist nur schwer vorstellbar, welche Gewalt, Entbehrungen und Schrecken Wojnarowicz in den 37 Jahren seines Lebens erdulden musste. Viel spricht aus meiner Sicht dafür, dass das Leben von Wojnarowicz Hanya Yanagihara beim Schreiben von A Little Life zumindest unterbewusst inspiriert haben. Auch weil der Fotograf Peter Hujar sowohl für Wojnarowicz als auch für den Roman von Yanagihara eine prägende Rolle spielen.

In dem titelgebenden Essay ‚Living Close to the Knives’ beschreibt Wojnarowicz den Tod von Peter Hujar (1934-1987), seinem einstigen Geliebten und langjährigem Freund. Hujar war als Fotograf Zeit seines Lebens finanziell nicht erfolgreich – trotz seiner Portraits von berühmten Persönlichkeiten und der Unterstützung von Susan Sontag. Spätestens seit 2015 ist Hujar wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten: Auf dem Cover von Hanya Yanagiharas A Little Life befindet sich eines seiner Portraits, ‚Orgasmic Man‘ (1969).

Für den Tod von Hujar findet Wojnarowicz keine Worte: „Dies ist das wichtigste Ereignis in meinem Leben und mein Mund kann keine Wörter formulieren und vielleicht bin ich derjenige, der die Wörter braucht, vielleicht bin ich derjenige der beruhigt werden muss und alles was ich machen kann ist hilflos meine Hände hochzuheben und sagen, »Alles was ich will ist ein wenig Barmherzigkeit.« Und dann fließt das Wasser aus meinen Augen.“ Die AIDS Epidemie befindet sich auf ihrem Höhepunkt, ganze Freundeskreise und Stadtviertel sterben aus. Wojnarowicz schreibt: „und jedesmal wenn ich diesen Monat ans Telefon ging musste ich erfahren, dass einer von ihnen gestorben ist. Stück für Stück erodiert die Landschaft und an ihrer Stelle baue ich ein Denkmal aus Fragmenten von Liebe und Hass, Traurigkeit und Mordgedanken. Dieses Denkmal dient als ein Schrein, wo man der Unschuld langsam den Bauch aufschlitzt, ihr Herz entnimmt, ihr die Augen rausreißt, die Zunge abschneidet, ihre Finger bricht, ihr die Beine ausreißt.“

David Wojnarowicz - Close to the Knives: Memoiren der Desintegration 02

Close to the Knives ist eine Abrechnung mit Politik und Gesellschaft: „Und dann diese selbstgerechten wandelnden Hakenkreuze, die behaupten, dies sei Gottes Strafe und Buckley fragt in der Tageszeitung nach einem Programm um Leute mit AIDS zu tätowieren und LaRouche in Kalifornien bereitet tatsächlich ein Gesetz vor, mit dem Menschen mit AIDS in Lagern isoliert würden und wenn ich dann mit Mordlust reagiere fühle ich mich schrecklich und sage mir, dass es faschistoid ist, wenn ich diese Leute ermorden will und im Erschrecken über mein Gefühlsleben versuche ich zu rationalisieren und gehe noch weiter, wenn ich sage, in dieser Kultur akzeptieren wir Mord als Selbstverteidigung gegen jene die uns ermorden wollen und was hier stattfindet ist ein täglicher, öffentlicher und gesellschaftlicher Mord und es passiert in unserer Mitte und nicht sehr viele Leute scheinen etwas dagegen zu sagen oder zu tun.“

Wojnarowicz schwankt zwischen Wut, Hass und Zorn, gibt sich aber nicht der Apathie hin. Denn der Text ist auch als Weckruf gegen dieses mörderische System zu verstehen, das selbst keinen Hunger, keine Gewalt, keine Armut und keinerlei Ausgrenzung kennt. Ein System, dessen Schweigen und Nichthandeln nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf, weil es vorsätzlich und mörderisch agiert. Es ist wenig verwunderlich, dass viele Künstler*innen die Lektüre von Close to the Knives als prägend beschreiben, dass es ihre Vorstellung von Politik geformt und sie radikalisiert hat.

Close to the Knives ermöglicht es, die Welt durch die Augen des Künstlers zu sehen. Es ist nicht immer leicht, diesem Blick zu folgen, weil er oft wenig Kontext bietet, aber auch, weil er sich weigert wegzuschauen. Doch darin – und es fällt mir schwer, weniger pathetische Worte zu finden – liegt auch das Geschenk dieses Textes. Denn wer sich einmal mit offenen Augen durch die Welt bewegt, wird sie so schnell nicht wieder schließen. Und der Blick von Wojnarowicz ist ein zorniger und gewaltvoller, vor allem aber ein menschlicher.

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