„Victor lag im Bett und konnte hören, wie die Wellen an der Küste brachen; das Geräusch drang durch die geschlossenen Capiz-Fenster zu ihm durch. Er stellte sich vor, jedes der Rechtecke aus Muschelschalen sei ein Behältnis für eine Erinnerung: Eines enthielt eine Szene, in der sein Großvater ihn an seinen kleinen Händen festhielt und ihm beibrachte, wie man sich auf dem flachen Meer treiben ließ. Ein anderes zeigte ihn als Erwachsenen, wie er im offenen Meer schwamm und über lange Zeiträume hinweg in die Tiefe tauchte, als würde er die Gefahr suchen. Ein weiteres zeigte ihn als Mann mittleren Alters, der unter einer hoch am Himmel stehenden Sonne am Ufer entlangschritt und seine Mutter zu Grabe trug. Die restlichen Gefäße gehörten seinem Vater; sie wirkten alle fremd und gestaltlos.“
In ‚Der Junge aus Ilocos‘ von Blaise Campo Gacoscos (im Original ‚Kites in the Night‘, aus dem Englischen von Andreas Diesel) vereint Tradition und Moderne, Metropole und Land, Nähe und Distanz, um in acht Episoden aus dem Leben eines Mannes in den Philippinen zu erzählen – in denen sich auf knapp 150 Seiten ein halbes Leben und die Gegenwart der Philippinen entfalten.
Die Ilocos-Region im Norden der Philippinen bildet das Herz von Victors Kindheit und Jugend. Von Anfang an findet sein Leben im Spannungsverhältnis der Gegensätze statt: Nachdem der Vater die Familie für eine andere Frau verlässt und aus ihrem Leben verschwindet, meidet Victors Mutter die Kirche, um dem Tratsch der Gemeinde zu entgehen. Trotzdem ist der Einfluss der katholischen Kirche überall zu spüren – so wie aber auch die Ilocano-Traditionen. Dazu gehört die kulinarische Küche der Region, sie steht für Gemeinschaft, spendet aber auch Trost in Abwesenheit eben jener.
Victor wächst behütet auf, aber auch in dem Wissen, dass seine soziale Herkunft so wie auch seine Homosexualität ihn zum Außenseiter machen. Als es ihn als jungen Mann nach Malina zieht, ist er dem Leben der Reichen und Schönen als Klatschreporter nah, fristet er sein Leben dennoch in einem von Ratten befallen Loch. Seine Sexualität kann er hier endlich frei ausleben – im Verborgenen der schwulen Badehäuser (random fact: Wer einen Roman lesen möchte, in dem schwule Badehäuser eine Rolle spielen, ist beim Albino Verlag stets an der richtigen Adresse) und der Dating Apps.
Gacoscos zeichnet ein Bild der philippinischen Kultur, die sich zwischen Traditionen und Kolonialismus bewegt, aber auch Teil einer globalisierten Welt ist. So ist der Text auch im Original auf Englisch verfasst, also der Sprache, die infolge der amerikanischen Besatzung als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt wurde, Gacoscos verwendet aber genauso selbstverständlich Begriffe aus den vielfältigen Sprachen der Philippinen wie Tagalog und Ilocano (keine Sorge, ein ausführliches Glossar am Ende des Romans klärt auf).
‚Der Junge aus Ilocos‘ ist ein Roman des Unausgesprochenen, mensch könnte auch schreiben, er zeichne sich durch Zurückhaltung aus – inhaltlich wie stilistisch. Auf die Frage, warum sein Vater die Familie verlassen habe, erhält der junge Victor von seiner Mutter keine zufriedenstellende Antwort. Er muss seine eigenen Antworten finden, in dieser für ein Kind oft überwältigenden Welt sich selbst orientieren. Und so müssen sich auch die Lesenden in der Offenheit der einzelnen Kapitel zwischen den Zeilen lesen, nichts ist explizit ausgeschrieben. Das gilt im Übrigen auch die die Geschichte der Philippinen wie die Diktatur durch Ferdinand Marcos zwischen 1972 und 1986 oder der Einfluss der katholischen Kirche. All das ist im Leben und im Alltag und den Gesprächen der Figuren zu spüren – mundgerecht präsentiert oder gar didaktisch aufgearbeitet wird es einem nichtwissenden Publikum deswegen aber nicht (Soll heißen: Find ich gut!).
Die strenge Form und nüchterne Sprache, die Offenheit der einzelnen Kapitel – ‚Der Junge von Ilocos‘ folgt den Regeln der klassischen Kurzgeschichte, dass die Biografie Victors diesen einen roten Faden gibt, macht aus diesen – wie auch Gacoscos selbst schreibt – ein Composite Novel. Das wirkt aber trotzdem kein bisschen verstaubt, einfach weil Gacoscos das so gut und souverän macht.
Die Kapitel werfen aber nicht nur ein Schlaglicht auf die verschiedenen Episoden in Victors Leben, sie alle erzählen, so scheint es mir, von einem Mangel. Einem Mangel an Freiheit, an Liebe, an Sicherheit, an Vergebung, an Empathie. Sie erzählen aber auch von dem Versuch, die Lücke zwischen dem, wie die Welt sich präsentiert, und dem, wie sie sein könnte, zu schließen – so wie ein bei Nacht steigen gelassener Drache, der im Rhythmus des Windes vor einem vollen Mond tanzt. Mensch darf sich durchausfragen, was dieses Bild am Ende dieser Rezension bedeuten mag. Nun, es bedeutet eine unbedingte Leseempfehlung!
Blaie Campo Gacoscos, 1968 in Candon, Ilocos Sur geboren, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitete wie seine Figur Victor viele Jahre lang als Klatschreporter (autobiographisch ist dieser Text aber trotzdem nicht). ‚Der Junge aus Ilocos‘ ist sein Debütroman.