Zwischen du und ich, Vergangenheit und Gegenwart erzählt ‚An Rändern‘ von Angelo Tijssens (aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel) von einer Rückkehr an den Rand der Welt. Es ist eine Geschichte über die Gewalt durch die alkoholkranke Mutter und über die Liebe zu einem Jungen, der nun zu einem Fremden geworden ist.
Mindestens zehn Jahre sind vergangen, seitdem der Erzähler von Angelo Tijssens Debütroman seine Heimat irgendwo an der Küste Flanderns verlassen hat. Nur widerwillig kehrt er zurück, als er vom Tod seiner Mutter erfährt: „Sie ist tot und sie ist Asche und ich muss hin und mir angucken, was übrig ist. Und sofort danach: Ich muss zu ihm, ich muss ihn sehen, wie ist es ihm ergangen, vielleicht ist er verheiratet und vielleicht hat er Kinder.“
Die Begegnung der beiden erwachsenen Männer ist eine Konfrontation mit der Vergangenheit. In einer schlichten und konzentrierten Sprache schreibt Tijssens über den verbalen und physischen Missbrauch durch die Mutter des Erzählers, Vieles bleibt ungesagt, findet in den Leerstellen statt. Dem gegenübergestellt ist die Freundschaft der beiden Jungen, die Unschuld ihrer Liebe, ohne dass Tijssens deswegen das Sexuelle ausklammern würde: „Jetzt zieht er auch den Pullover aus, Haut an Haut, dann zieht er am Gummizug seiner Hose und zeigt kurz seinen Steifen. Für dich, sagt er und ich lache, laut.“ Tijssens degradiert seine Protagonisten nicht zu zwei geschlechtslosen Puppen, die um die Sympathie einer sich als weltoffen verstehenden Leser*innenschaft buhlen müssen, deren sogenannte Toleranz immer dann an ihre Grenzen stößt, wenn ein schwuler Mann auch tatsächlich schwules Begehren zum Ausdruck bringt, er das Sperma eines anderen Mannes schmecken möchte. Tijssens lässt stattdessen seine beiden Protagonisten rumblöden, lässt sie Jungs, lässt sie Mensch sein.
So wie ihn der Tod der eigenen Mutter kaum berührt, hält der Erzähler auch die Ereignisse in der Vergangenheit auf Distanz. Immer wieder wechselt er in seiner Erzählung vom Ich zum Du, als würde er eine Geschichte erzählen, die wem anders passiert ist. Doch er verrät sich selbst, vor allem dann, wenn es mitten im Absatz zum Bruch kommt, man sich in der Zeit verloren glaubt und merkt, dass die Vergangenheit gegenwärtig ist.
‚An Rändern‘ ist dezidiert queer und zugleich eine universelle Geschichte. Tijssens erzählt von schwulen Dating Apps, anonymen Sex und von queerer Scham, vor allem aber von den Dingen im Leben, die wir zurücklassen müssen, von Abschieden und Neuanfängen und von Einsamkeit und dem Versuch, eine menschliche Verbindung zu finden, für wir nicht unsere Körper und uns selbst verbiegen müssen.
Der Roman kommt ohne Seitenzahlen aus, der Text ist im wahrsten Sinne des Wortes an den oberen Rand der Seiten gedrängt. Auch formal evoziert ‚An Rändern‘ simpel wie effektiv Leerstellen, den Rand der Welt, das Meer, die Zeit und den Sand, die „am Ende alles kaputtkriegen, alles.“
Angelo Tijssens hat die Drehbücher zu ‚Girl‘ und zu ‚Close‘ mitgeschrieben, letzterer war 2023 für den Oscar als Bester Internationaler Film nominiert. Beeindruckend ist auch sein Debütroman, ein Adjektiv, welches dem Text kaum gerecht wird. Denn nur wenige Autor*innen erzählen so zugleich intensiv von Trostlosigkeit und von Hoffnung, dass es schwer fällt, den Text nach der Lektüre abzuschütteln und sich einer neuen Geschichte zu öffnen.