The Kingdom of Sand ist das neuste – und womöglich auch letzte – Buch von Andrew Holleran, dem Autor des schwulen Klassikers Dancer from the Dance (Tänzer der Nacht, aus dem Amerikanischen von Christian von Maltzahn). Beide Bücher unterscheiden sich stark, sowohl stilistisch als auch inhaltlich, und dennoch lässt sich The Kingdom of Sand nur im Kontext von Dancer from the Dance erfassen. Das eine Buch erzählt vom schwulen Ghetto der 70er Jahre in New York, das andere Buch erzählt vom Ghetto des Alterns. Beide Bücher erzählen von Einsamkeit und Langeweile.
„Like all July Fourth displays, the fireworks began in a tentative fashion – like the deaths of people when you are still young. By the finale, all hell would break loose – the way, in old age, everyone you know or love seems to come down with something at once.”
Der namenlose Protagonist lebt in der Einöde einer Kleinstadt in Florida, auch viele Jahre nach dem Tod seiner Eltern, die er beide gepflegt hat. Sein Leben besteht aus Routinen: er geht nachts spazieren, schaut Pornos auf der Veranda, geht zum Cruisen in die Videothek am Highway 301 und schaut alte Filme mit seinem Freund Earl. Das Haus seiner Eltern gleicht einem Mausoleum, einer Gedenkstätte der Verstorbenen, in der kein Platz für die Lebenden ist. Auch die Häuser rund herum sind verlassen, ihre Bewohner*innen sind verstorben. Ihre Kinder bleiben verschwunden, denn wer es einmal geschafft hat, die Stadt zu verlassen, kehrt nicht zurück.
Eine Konstante im Leben des Protagonisten ist sein Freund Earl, der mit Mitte 80 gut 20 Jahre älter ist und den er auf der Bootsrampe kennengelernt hat – einem Cruising Ort, den die Polizei mittlerweile stillgelegt hat. Die beiden verbindet nichts Sexuelles, sie sind trotz ihrer politisch unterschiedlichen Ansichten Freunde, welche gern Zeit miteinander verbringen, aber auch stets eine gewisse emotionale Distanz wahren. Der Erzähler selbst kann sich seine Faszination mit seinem Freund Earl selbst kaum erklären, warum ihn sein körperlicher Verfall und sein nahender Tod so beschäftigt. Bis er erkennen muss, dass er durch ihn sehen kann, was ihm selbst noch bevorsteht. Man fühlt sich unweigerlich erinnert an Hervé Guiberts Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Hier dokumentiert der Erzähler heimlich die AIDS Erkrankung seines Freundes Muzil und muss schließlich erkennen, wieso er zum Verräter geworden ist: Muzil zeigt ihm seine Zukunft.
Die Gedanken des Erzählers kreisen um die gleichen Szenen und Beobachtungen, an denen er immer wieder ansetzt wie jemand, der sich nicht daran erinnern kann, ob er davon bereits berichtet hat – oder unsicher ist, dass seine Zuhörer*innen sich erinnern können. Nichts passiert in diesem Roman, außer, dass die Zeit vergeht. Und das ist es auch, was der Roman mit Dancer from the Dance gemeinsam hat, in dem das Leben einer großen Party gleicht und doch kaum etwas geschieht. Andrew Holleran zeigt, dass es kaum einen Unterschied macht, ob man auf Fire Island tanzt oder in Florida auf den Tod wartet: Beides sind langweilige und einsame Angelegenheiten.
„What’s the univeral concern that parents express when told their child is gay? ‘You’ll be all alone when you’re old!’”
The Kingdom of Sand zeigt, was es auch heute noch bedeutet als schwuler Mann in einer Kleinstadt alt zu werden. Scham und auch die Gewohnheit zwingen den Erzähler dazu, sich zu verstecken und zu verstellen. Den Versuchen der Eltern – denen er nie von der eigenen Homosexualität erzählt hat – ihn besser kennen zu lernen, ist er stets ausgewichen. Es bleibt in der Schwebe, ob die Scham zu tief sitzt oder ob ein Outing den Eltern gegenüber tatsächlich zum Bruch geführt hätte. Freundschaften zu anderen schwulen Männern scheitern an der Furcht, die Freundschaft könnte das eigene Geheimnis verraten. Scham und Einsamkeit gehören im Roman zusammen. Oft habe ich mich beim Lesen an die Lektüre von Daniel Schreibers Essay Allein erinnert gefühlt.
Das Trauma durch die AIDS Epidemie wird zwar erwähnt, allerdings kaum thematisiert. Doch es ist der Grund, warum der Erzähler als junger Mann zu seinen Eltern in die Einöde zieht und sich gegen eine Rückkehr nach New York entscheidet. Dort gibt es kein Leben mehr, an das er anschließen kann, die meisten seiner Freunde haben nicht überlebt. Nachdem 1983 Hollerans zweiter Roman Nights in Aruba (Nächte auf Aruba, aus dem Amerikanischen von Gerd-Christian von Maltzahn) erschienen ist, hat es 13 Jahre gedauert, bis ein weiterer Roman erschienen ist. In den 80er Jahren hat Holleran vor allem als Journalist über die AIDS Epidemie geschrieben, diese Texte sind in Ground Zero bzw. Chronicle of a Plague, Revisited versammelt. Es ist wenig verwunderlich, dass sich diese literarische Schockstarre Hollerans, dessen Biographie zahlreiche Parallelen zu dem Leben des Erzählers in The Kingdom of Sand aufweist, auch in seinem neusten Roman wiederfindet.
Wer ein Buch wie Dancer from the Dance erwartet, den wird The Kingdom of Sand enttäuschen. Der Text setzt eine gewisse Geduld voraus, die Bereitschaft dem Gegenüber die Zeit einzuräumen, die es benötigt, um die eigene Geschichte zu erzählen. Wer dazu bereit ist, wird einen Text vorfinden, der auch lange nach der Lektüre nachhallt. The Kingdom of Sand ist ein Buch über das Altern, über den Körper, über Autonomie, über Scham und über die Unaufhaltsamkeit der Zeit, die jedes noch so große Königreich zu Sand zerfallen lässt.