„Aber wenn er mich nicht angewiesen hätte, wie hätte ich dann dorthin finden sollen, wo ich sein wollte: zu seinen Füßen. Ich hätte mich niemals getraut, diesen Wunsch zu äußern. Er sagte nicht, was ich tun sollte. Er sagte auch nicht, dass ich kein Recht auf einen Stuhl hatte, so wie meine geschmacklose Jacke kein Recht auf einen Garderobenhaken. Kurioserweise entfesselte er meine Wünsche, obwohl er mir meinen Willen zu nehmen schien.“
‚Box Hill‘ von Adam Mars-Jones (aus dem Englischen von Gregor Runge) beginnt mit einer alles verändernden und lebensweisenden Zufallsbegegnung: 1975, Box Hill, in der Nähe von Leatherhead, Surrey, wo wegen des starken Gefälles nur Buchsbäume und Eiben wachsen, der Ort, an dem einmal pro Woche die Biker mit ihren prächtigen Maschinen einfallen. Hier begegnet an seinem achtzehnten Geburtstag der Erzähler Colin dem Biker Ray – und wird sogleich von ihm in Besitz genommen.
Im Zentrum der Geschichte über eine SM-Beziehung in der Bikerszene der 70er Jahre steht ein ungleiches Paar. Ray ist vollkommen, eine Verkörperung der Superlative, bestimmt, selbstbewusst und erfahren, ein Mann, der seine Umwelt nicht durch Zwang oder Unfreundlichkeit in ihre Schranken weist: „Indem er ihnen Respekt erwies, warf er sie auf ihre eigene Bedeutungslosigkeit zurück.“ Colin hingegen ist tollpatschig, unerfahren, in jeglicher Hinsicht durchschnittlich und passiv: „Wenn es Führungspersönlichkeiten geben soll, braucht es auch Leute, die willens sind, sich unterzuordnen. Unterordnungskompetenzen hatte ich im Übermaß anzubieten, sie warteten nur darauf, geborgen zu werden.“
Nur einen Tag nach ihrer Begegnung zieht Colin bei Ray ein und versucht seinen Platz in diesem Arrangement zu finden. Doch auch eine SM-Beziehung hat ihre eigenen Routinen und einstudierten Rituale, Rituale, in denen ein gewachster Reißverschluss, der vom Hals bis zwischen die Beine reicht, die Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens verbergen kann. Zumindest wenn man wie Colin achtzehn Jahre alt ist und lechzend im struppigen Gras von Box Hill kniet. Colins Lehrjahre bringen ihm auch den Biker-Lifestyle näher, der das Thema Klasse in den Hintergrund treten, wenn auch nicht vollkommen verschwinden, lässt. Doch andere – wichtigere? – Fragen bleiben Colin in all der Zeit ein Rätsel. Warum darf er, der so durchschnittlich ist, überhaupt bei Ray sein? Was macht Ray beruflich oder den ganzen Tag über, wenn Colin zu festen Zeiten die gemeinsame Wohnung verlassen, und sich ein eigenes Leben abseits von Ray aufbauen muss? Colin spürt zum einem, dass ihm die Antworten nicht guttun würden und zum anderen, dass sein mangelnder Ehrgeiz, diese Fragen zu beantworten, den ultimativen Vertrauensbeweis darstellt.
Der scheinbar unkonventionellen Beziehung der beiden Männer gegenübergestellt ist die Beziehung von Colins Eltern, „ein Pärchen wie aus dem Bilderbuch“. Als Colins Mutter jedoch kurzzeitig erkrankt, zerbricht etwas in Colins Vater. Er kann nichts mehr ohne seine Frau tun, mit seiner plötzlichen Hilflosigkeit übernimmt er die vollständige Kontrolle über ihr Leben. Adam Mars-Jones erzählt voller Witz von Klasse und Machtgefällen in Beziehungen. Dabei demontiert er gekonnt Beziehungsnormen und von diesen abweichende Beziehungsmodelle, die sich in ihren Regeln, Routinen und Ritualen womöglich nur im Detail unterscheiden. Und im direkten Vergleich zwischen der SM-Beziehung zweier Männer und dem britischen Familienmodell der 70er Jahre ist vielleicht erstere die gesündere Variante.
‚Box Hill‘ ist mit seinen knapp 140 Seiten ein Kleinod der schwulen Literatur, eine kurzweilige wie amüsante Geschichte voller britischem Humor, deren Kern vor allem aber eine erstaunlich berührende und ungewöhnlich-gewöhnliche Liebesgeschichte ausmacht.
Aktuell wird der Roman unter der Regie von Harry Lighton und dem Titel ‚Pilion‘ verfilmt, die Hauptrollen übernehmen Alexander Skarsgård und Harry Melling.