Wie weit muss der Blick reichen, um die eigene Geschichte zu verstehen, gänzlich zu fassen? On Earth We’re Briefly Gorgeous, der Debütroman von Ocean Vuong, versucht diese Frage zu beantworten, indem der Blick des Schreibenden von sich selbst zur Mutter wandert, von den USA nach Vietnam, von der Gegenwart in die Vergangenheit. Indem er einen Brief an seine Mutter schreibt, den diese vermutlich nie lesen wird, weil sie es nie gelernt hat.
Als der Große amerikanische Roman wurde On Earth We’re Briefly Gorgeous bereits bezeichnet. Dabei sprengt der Roman Grenzen. Denn Vuongs Geschichte beginnt mit seiner Großmutter in Vietnam, die sich während des Vietnamkrieges in einen amerikanischen Soldaten verliebt. Als sie Jahrzehnte später mit ihrer Tochter und ihrem Enkel über ein Flüchtlingscamp in die USA gelangt, hat dieser bereits eine neue Familie gegründet. Die Kindheit Vuongs ist geprägt vom Trauma seiner Vorfahren, der geistigen Verwirrtheit seiner Großmutter, den gewalttätigen Ausbrüchen der Eltern. Sein Vater ist dabei nicht mehr als eine Randnotiz, in der letzten Erinnerung Vuongs an ihn wird er von der Polizei abgeführt, nachdem er seine Mutter verprügelt hat. Die Verschwiegenheit lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass Vuong sich bereits in Night Sky with Exit Wounds, einer Gedichtsammlung, mit dem abwesenden Vater auseinandergesetzt hat.
„Two languages cancel each other out, suggests Barthes, beckoning a third. Sometimes our words are few and far between, or simply ghosted.“
Sowohl für seine Großmutter als auch seine Mutter wird Vuong zum Übersetzer. In den Leerstellen zwischen den Sprachen geht immer etwas verloren und Vuong ist in diesem unerforschten Raum großgeworden. Als Diaspora ist er ein Produkt Vietnams und Amerikas. Trevor, der All-American Boy, in den sich Vuong verlieben wird, verkörpert letzteres und alles, was damit einhergeht: Fast Food, Waffen, Drogen. Obwohl Trevors Untergang unausweichlich ist und obwohl er keine ‚Schwuchtel‘ werden will, ist ihre Beziehung eine zärtliche. Sie ist aber auch Beweis dafür, dass sie die Jugend der beiden nicht überdauern kann, dass ihre Unschuld in der Welt der Erwachsenen keinen Platz findet und einer Welt der Scham weichen muss.
„I’m not telling you a story so much as a shipwreck—the pieces floating, finally legible.“
In der Marketingkampagne rund um das Buch wird zum Großteil nur die Geschichte Vuongs und seiner Mutter erwähnt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn Vuongs Jugendliebe nimmt einen fast genauso großen Teil im Roman ein. Was das Buch kranken lässt, sind die vielen anderen Themen, die angerissen, erwähnt und verschwiegen werden. Eine Version des ersten Kapitels erschien bereits 2017 im New Yorker – damals als Essay. Nun ist daraus ein Roman geworden, Autofiktion, der man die wachsende Distanz spürbar anmerkt. Einschübe über Barthes funktionieren in einem Essay noch, in einem Roman, der von seiner lyrischen Sprache lebt, verstören sie zunehmend. Das heißt nicht, dass lyrische Sprache und die Auseinandersetzung zwischen Theorie und dem eigenen Leben sich ausschließen. Maggie Nelson hat dies bereits mit The Argonauts bewiesen. Dafür benötigt es aber eine gewisse Konsequenz, die dem Roman fehlt.
Das eigene fragmentarische Erzählen zu reflektieren, ist eine Sache. Muss es deswegen aber auch funktionieren oder beim Lesen gefallen? Das Unabgeschlossene ist dabei Vuongs Ziel, er will der westlichen Vorstellung, einer abgeschlossenen Erzählung etwas Fragmentarisches entgegenstellen. Ob die Wahl von Trump oder die wachsende Drogenepidemie in den USA, Vuongs Blick fällt auf viele Themen, ohne ihnen dabei jedoch gerecht zu werden. Zum Verhängnis geworden ist Vuong vielleicht auch der Erfolg des Essays und der Wunsch gewiefter Verleger, aus diesem schnell Kapital zu schlagen (Man achte nur darauf, dass die deutsche Übersetzung keine zwei Monate nach der Originalausgabe erscheint). In den kommenden Wochen wird es vermutlich nicht einfach sein, den Berichten zum Roman auf Social Media zu entkommen. Das ist schade. Nicht, weil Vuong ein schlechter Autor wäre oder On Earth We’re Briefly Gorgeous auf ganzer Linie versagt, sondern viel mehr, weil Vuongs Talent dafür spricht, dass er sich mit einem besseren Buch einen Namen hätte machen können. Und mit etwas Zeit und Abstand wäre ihm das sicherlich auch besser gelungen.