Andrea Lawlor – Paul Takes the Form of a Mortal Girl

Andrea Lawlor - Paul Takes The Form Of A Mortal Girl 02

„Like a shark, Paul had to keep moving. He slept only when necessary. He had business with the world, codes to crack, so many questions. Tonight, for example, Paul needed to know what fucking was like for girls.“

Es sind die frühen 90er, anything goes. Besonders wenn man wie Paul ein Gestaltwandler ist. Das klingt natürlich erst einmal nach Fantasy oder Scifi, ist es aber beides nicht. Lawlor nutzt die mythische Figur des Gestaltwandlers, um entspannt, aber nie oberflächlich, über Identität und das Oszillieren zwischen den Geschlechtern zu philosophieren. Und ganz nebenbei werden dabei dankenswerterweise auch die banalen Aspekte dieser einzigartigen Fähigkeit thematisiert. Das ist Camp, das ist Theorie, das ist eine echt spannende Lektüre.

Paul Takes The Form Of A Mortal Girl folgt keiner stringenten Handlung, das Buch lebt viel mehr von einer gewissen Coolness. Nicht umsonst haben gewitzte Marketingmenschen die Worte „Tight, Deep, Hot, Smut“ auf das Cover gepackt. Paul liest feministische Ikonen wie Irigaray und Audre Lorde, ist ein Flaneur, schreibt Zines und hin und wieder stellt er sich auch vor, wie die androgyne Göttin und Mutter des Punkrock Patti Smith abwechselnd mit ihrem künstlerischen Seelenverwandten Robert Mapplethorpe in seinen Mund urinieren. Und wenn er damit nicht beschäftigt ist, hört er Musikkassetten, sitzt in Cafés oder cruist durch die Lederbars, wo er an den Pissoirs mit seinem modifizierten Geschlecht zu beeindrucken weiß. Das Buch scheut sich aber auch nicht Ernstes zu thematisieren wie beispielsweise die AIDS Epidemie, die sich im Hintergrund durch den Text zieht oder die Problematik eines radikal essentialistischen Feminismus.

Als Polly datet Paul Diane – deren Name nicht umsonst an die Amazonenprinzessin Diana Prince erinnert, die auf einer Insel voller Frauen aufgewachsen ist. Als Diane hinter Pollys Geheimnis kommt, ist sie davon überzeugt, dass Polly schon immer eine Frau war – weil Polly wie eine Frau riecht. Dass sie auch ein Mann ist, verunsichert Diane. Paul beginnt in der Gestalt von Polly aber auch wie eine Frau zu empfinden. Geschlecht – ein gesellschaftliches Konstrukt oder biologisches Schicksal? Gemeinsam besuchen die beiden ein feministisches Festival, auf dem Männer nicht willkommen sind. Hier muss Polly den männlichen Teil ihrer Identität verheimlichen. Männer sind – egal wie fortschrittlich sie auch denken mögen – letzten Endes eben nur das und dementsprechend nicht willkommen. Paul verkörpert jedoch eine Vielzahl an Personen. Nicht immer sympathisch, aber immer menschlich. Jeder Versuch, ihn zu beschränken oder einzukreisen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt.

Wer sich an Thomas Meinecke und der gnadenlosen Verhandlung von Theorie und Lebensrealität erinnert fühlt, hat vermutlich recht. Glücklicherweise bleibt Paul Takes The Form Of A Mortal Girl aber immer lesbar und bereitet dem Leser keine unnötigen Kopfschmerzen. Gut möglich, dass das Buch zur queeren Bibel der 90er wird. Und ja, das ist natürlich alles super amerikanisch, aber davon ist der queere Diskurs ja so oder so geprägt.

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