Alan Hollinghurst – Unsere Abende

Das Stück wirkte ganz schlicht, wie ein Lied, aber die Modulationen gaben mir zu denken; dann setzte ein lebhaftes Motiv in hohen Tönen ein und verschwand wieder wie der Kratzer auf der Platte, und übrig blieb das Lied in einer veränderten Stimmung, es war nicht dasselbe wie zu Beginn, der Schatten einer Erfahrung schien darauf zu liegen – ich hätte nicht sagen können, welche es war, aber ich spürte es. Ich hatte keine Ahnung, was wir uns da anhörten oder wie lange es weitergehen würde – es folgte eine sehr ruhige Passage, und das lebhafte Motiv kehrte zurück, aber gedämpft und träumerisch, eine traurige, aber schöne Trance, und kurz darauf war das Stück ohne irgendwelchen Schnickschnack zu Ende.

Alan Hollinghursts ‚Unsere Abende‘ (übersetzt von Joachim Bartholomae) beginnt mit dem Ende, dem Lebensabend seines Protagonisten Dave Win: Mark Hadlow ist tot, „ein moralisch denkender Geschäftsmann, ein bedeutender Philanthrop, siebzig Jahre lang mit derselben Frau verheiratet; kein Eremit, vielmehr ein «freigiebiger Gastgeber», aber ohne Affinität zum Rampenlicht“. Einst ermöglichte er es Dave, dank eines Stipendiums eine Privatschule zu besuchen und in Oxford zu studieren – wie es auch sein eigener Sohn Giles tat. Beide Männer hat das Leben jedoch in völlig unterschiedliche Richtungen getrieben. Während Dave auf eine bescheidene, aber nicht minder zufriedenstellende Karriere als Schauspieler zurückblicken kann, ist Giles vor allem als Brexit-Minister bekannt geworden. Im Angesicht des Todes beginnt Dave sich an sein Leben zu erinnern.

Dave erfährt in dreifacher Hinsicht Entfremdung. Er wächst als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in den 60ern auf, seinen burmesischen Vater lernt er nie kennen. Das macht ihn in den Augen zur Verkörperung des ‚Anderen‘, in der Welt des Wohlstandes macht ihn sein Status als Stipendiat zu einer Randfigur, eine Rolle, die sich verfestigt, als er die eigene Homosexualität entdeckt. Race, Klasse, Sexualität – auch in Hollinghursts neustem Roman sind also seine drei großen und stets wiederkehrenden Themen vorhanden.

Es ist dem Albino Verlag zu verdanken, dass ‚Unsere Abende‘ auch auf Deutsch erschienen ist. Blessing, die bisherige deutschsprachige Heimat des Autors, scheint das Interesse an ihm verloren zu haben. Hollinghurst hat in seiner langen Karriere mit Romanen wie ‚Die Schwimmbad-Bibliothek‘ (aus dem Englischen von Eike Schönfeld) und ‚Die Schönheitslinie‘ (aus dem Englischen von Thomas Stegers) Literaturklassiker hervorgebracht, für letzteren wurde er sogar mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Hierzulande ist er jenseits seiner schwulen beziehungsweise queeren Leser*innenschaft dennoch immer ein Geheimtipp geblieben. Einer der Gründe mag sein, dass Hollinghurst in seiner Darstellung schwuler Sexualität für ein deutschsprachiges Publikum zu explizit war. Ironischerweise hält sich Hollinghurst in ‚Unsere Abende‘ diesbezüglich arg zurück. Hat die Süddeutsche Zeitung den Roman vielleicht auch deswegen als seinen vielleicht besten ausgezeichnet? Ich mag die Frage nicht beantworten, auch weil ich selbst noch Aufholbedarf habe, ‚Unsere Abende‘ ist mein erst dritter Hollinghurst. Sicher bin ich mir allerdings, dass ihm auch hier auf über 600 Seiten ein grandios komponiertes Werk gelungen ist.

Die erste Hälfte dieses schwulen Bildungsromans deckt Daves Kindheit und Jugend ab. Wie es sich für diese Gattung gehört, beginnt er seine Reise als naiver Held, der noch lernen muss, die Welt zu begreifen und ihrer Herr zu werden. Doch trotz aller Melancholie, die mit solch einem rückwärtsgewandten Blick auf das Leben einhergeht, wäre Hollinghurst nicht Hollinghurst, wenn nicht auch eine gewisse Britishness seinen Text charakterisieren würde. Als sich Dave bei seiner Mutter outet – die selbst lesbisch ist – nimmt sie diese Offenbarung wie zu erwarten gut auf. Trotzdem ruft die Aussprache in ihnen ein gewisses Unwohlsein hervor, als müssten sie von nun über andere Bereiche ihres Lebens ebenso derart offen reden, als müssten sie von nun an, Schreck oh Schreck, über ihre Gefühle sprechen!

In der zweiten Hälfte des Romans ist die Handlung fragmentierter, so wie wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, werden die Abende kürzer. Es sind die Wander- und die Herrenjahre, wir begleiten Dave in seiner Ausbildung, sehen wie er reift: In der Liebe und dem Sex, in seinem schauspielerischen Talent und seinen Freundschaften. Kurzum, wir begleiten ihn in seinem Menschsein. Es ist dieser zweite Teil, der für mich mehr Zugkraft besitzt. Doch es handelt sich dabei um eine rein subjektive Wahrnehmung, die wohl auch etwas mit meinem Alter zu tun hat (weiterhin 29, vielen Dank der Nachfrage), nicht aber mit der Qualität des Textes.

Unsere Abende‘ erzählt von Glück und Zufällen und wie sehr diese unser Leben beeinflussen, selbst wenn wir die uns zugewiesenen Rollen auf der Bühne des Lebens spielen. Die vermeintliche Schlichtheit des Textes, die Banalität aller Biografien entfaltet ihre Komplexität erst in den Wiederholungen, den Motiven und den Variationen. Und ja, dann ist es zu Ende. Wie in der Kunst so auch im Leben. Nur werden die wenigsten mit solch einem Gefühl der Zufriedenheit auf ihr Leben zurückblicken dürfen, wie die Lektüre von ‚Unsere Abende‘ es hervorruft.

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